Montag, 3. Oktober 2011

3. Trend: Navigator

(Erstmals erschienen am 01.02.2008,überarbeitet am 03. 10. 2011)





Trackliste:


1. Bereit!
2. Standortvorteil
3. Gott hat keine Flugzeuge
4. 1970
5. Mann in Uniform
6. Das Ende der Experimente
7. Rue Love
8. Pop Anamur
9. Mehr Rockelemente
10. Was soll's?
11. 5 Uhr morgens
12. Stopf alles rein!
13. Unsere Mission

Erschienen: 2005

Gekauft im: Studio Eins Plattenladen, Karlsruhe, ebenfalls 2005

Band:

Fezer (Gesang)
Peter Lattermann (Gitarre, Synthesizer)
Boris Koch (Baß)
Stolle (Schlagzeug)




Das Leben,

es geht manchmal die seltsamsten Wege.
Zum Beispiel finde ich gute 92% von dem, was an deutschsprachigem Indierock meinen Weg kreuzt, recht grauen- und abszeßerregend.
Da ich die Jungs von Trend aber persönlich kenne, kann man mir deswegen nun ziemlichen Hype unterstellen... denn warum sonst sollte ich ausgerechnet "Navigator" mögen?

Ich habe die (mindestens) letzten 15 Jahre in einem Musikerumfeld verbracht, und könnte sämtliche Lokalhelden hier auf den Sockel hieven, einen begeisterten Orang- Utan- Kult betreiben und die 15 Plätze damit bestücken, ohne daß betreffende Bands auch nur drei Platten mehr dadurch verkaufen würden. Wieso also gerade Trend?

Drehen wir

die Uhr einmal zurück, denn anders geht es mal wieder nicht, und knüpfen biographisch an meinen Slayer- Essay an. Zu jener Zeit gab es in Landau/ Pfalz einen ziemlichen Sumpfladen namens MASH, in dem sich vornehmlich sonntags die alternative Jugend aus den umliegenden Dörfern traf.
Jedes Saukaff in der Pfalz hatte seine zwei bis vier Renegaten, die unter der Woche meistens ihr Leben als Exoten fristeten und von der übrigen Jugend im besten Fall ignoriert bzw. wohlmeinend in Läden mitgeschleppt wurde, in denen man sich mit abweichendem Musikgeschmack fühlte wie auf dem Planeten Orgo.
Dieser Umstand führte dazu, daß sich nicht nur eine riesige, schwer überschaubare und teilweise lose verbundene Clique aus eben jenen Abweichlern bildete, sondern auch eine blühende Subkultur aus Bands mit den immer gleichen Leuten in diversen Kombinationen.
Der Background war anfangs derselbe: alle kamen irgendwie aus dem Hardcore- oder Punkbereich. Pit Lattermann kannte ich noch aus meiner Parallelklasse auf dem Gymnasium, allerdings vom Sehen, und das als ziemliches Spießerkind (ich) und Hafenstraßen- Style- Punk (er)... erst Jahre später sollte uns ein Rollins- Band- Kapuzenpulli ins Gesprach bringen. Boris kannte ich ebenfalls vom Sehen her als ein Straight- Edge- Hardcore- Kiddie, das bei einem damaligen guten Freund von mir in die Klasse ging, und Stolle fiel mir dann später als Stammgast im MASH auf.
Ich verbrachte meine Wochenenden im Proberaum mit einem hilflos zusammengewürfelten Haufen, der unter dem Namen "Contract" firmierte, irgendwelchen Möchtegern- Noise- Hardcore- Scheißdiewandan dahindilettierte und nach zwei grauenhaften Gigs das Handtuch warf.
In der Zeit hatte sich in gut zwei Jahren einiges getan. Die "Szene" hatte sich in zwei Hälften gespalten. Da waren die "Guten", die nach wie vor an linken Idealen festhielten, und die "Bösen", die machten, auf was sie gerade Lust hatten, sich von niemandem mehr hineinreden lassen wollten und den politisch unkorrekten Habitus der AmRep- Bands und frühen Turbonegro adaptierten (ohne jedoch, das muß ich betonen, zu vergessen, auf welcher Seite sie standen, wenn es mal wieder gegen irgendwelche NPD- Treffen in der südpfälzer Walachei ging).
Nach meinem Bruch mit den linken Dogmatikern fiel ich auch automatisch der zweiten Hälfte zu, blieb jedoch in frühen Jahren eher ein Appendix als ein wirkliches Cliquenmitglied.

In beide Hälften entstanden diverse Bands, die es normalerweise im besten Fall zu einer Single und einem Demotape brachten... auf "meiner" Hälfte waren das ganz früh eine Hardcoreband namens Meltdown und eine Death- Metal/Grindcoreband namens Homemade Abortion, deren Humor im Lauf der Jahre irgendwann legendär unappetitlich wurde (was dann bei einem Liveauftritt in einer mit Sense, Babypuppe und einem langhaarigen Basser in Frauenkleidern inszenierten Abtreibung gipfelte), danach eine unfaßbar brachiale Noiserockband namens Scud (eine der besten Livebands die ich jemals- ich betone, JEMALS- gesehen habe) und eine Garagenrockband namens Crime Kaisers, die es sogar ins VISIONS schaffte, aufgrund guter Beziehungen eine Single von Steve Albini produzieren ließ und auf der ersten Deutschlandtour im Café Central in Weinheim im Vorprogramm einer damals noch völlig unbekannten schwedischen Band namens "The Hives" spielte. Und das waren jetzt nur die Bands, an denen einer oder mehrere Mitglieder von Trend beteiligt waren.

Dazwischen lagen jede Menge Sachen, die nun zu sehr ins Private gehen würden... Fahrten zum DYNAMO in Eindhoven, Tage des Donners und adoleszenten Unfugs, jede Menge aller möglichen Konzerte, ein gemeinsamer Urlaub in Biarritz, und man war zwar nie richtig befreundet, kannte sich aber mittlerweile trotzdem recht gut.
Höhepunkt war das alljährlich wiederkehrende Weihnachtskonzert diverser Bands aus unserem Dunstkreis im LOGO in Landau in der Pfalz, und das ist es bis heute geblieben... denn nach dem Ende der Crime Kaisers verlief sich alles etwas, eine Menge von uns kehrten der Provinz den Rücken und zogen nach Berlin, Köln, Karlsruhe oder Hamburg, und einmal im Jahr gibt es dort großes Klassentreffen.

Deswegen

reduzierte sich der Kontakt auf ein- bis zwei eher zufällige Treffen im Jahr, und es war ein Kumpel von mir, der mich auf Trend aufmerksam machte. "Stolle hat eine neue Band", meinte er. Trend also. Beschissener Bandname, aber mal sehen, was da geht. Zunächst einmal nicht viel. "Das Produkt", eine Platte mit zappeligem Neo- NDW- Punk, deutschen Texten und einem hysterischen, mir bislang unbekannten Sänger. Ähm... für meine Ohren, denen ich eigentlich recht wenig derartiges zuzuführen pflege, klang das hektisch, klapprig und auf Plattenlänge relativ nervtötend. "Nicht meine Musik", mußte ich nach einem Hördurchgang feststellen, obwohl zwei, drei ganz nette Songs am Start waren.

Trotzdem schien es, als würden Trend relativ durchstarten. Ein Interview im PLASTIC BOMB, lobende Erwähnungen in INTRO und SPEX, und ich gönnte es den Jungs, denn immerhin machten sie schon lange genug Musik und hatten endlich mal größere Aufmerksamkeit verdient.

Dann, irgendwann 2005, gab es einen unfaßbar entfesselten Auftritt in Karlsruhe.
Eine Band, die auf einem enorm hohen Level alles wegblies und auf der Bühne eine Energie entwickelte, die sogar Skeptiker wie mich mitreißen konnte.
Zwei Songmomente blieben bei mir haften: "Mehr Rockelemente" und die Textzeile "Wir hören das Brüllen der Motoren".
Also was tun? "Navigator" war gerade erschienen, und ich beschloß, das Risiko einzugehen, mir die Platte zuzulegen.
Das Cover war variabel, und man konnte wählen, wen von den Jungs man sich als Titelfigur ins Plattenregal stellen wollte. Also pickte ich mir aus dem LP- Stapel im Studio Eins das sympathisch onkelhafte Bild von Stolle raus (siehe oben), ging mit der LP in mein Stammbistro, um Fußball zu schauen und das ein oder andere Weizenbier zu vernichten, und kam mitten in der Nacht nach Hause. Also, was tun mit dem angebrochenen Abend? Ich beschloß, mir die LP noch reinzutun. Und danach war alles anders.
Irgendwas war über mich hinweggaloppiert, und ich war erst einmal baff und genoß einen Moment die erholsame Ruhe in meiner Wohnung. Eigentlich hätte ich ins Bett gehen sollen, denn es war ungefähr 2 Uhr nachts, und ich hatte am selben Tag noch eine Spätschicht zu absolvieren, aber keine Chance. Also zum Kühlschrank, noch eine Flasche Hoepfner geköpft und die Platte rumgedreht, sowie meinem Kumpel eine SMS geschrieben, daß die neue Trend ein verdammter Brecher ist und er sie sich umgehend kaufen soll. Die Südpfalz Bankertz hatten mich mal wieder im Sack. Schweinebande.

Vor allem,

wie ich immer betonen muß, hätte mich die Platte auch erlegt, wenn ich die Jungs nicht gekannt hätte. Es war einfach exakt der richtige Zeitpunkt, wie später auch bei "Monarchie und Alltag" von den Fehlfarben, die ich mir zulegte, nachdem mich jemand mit dem Nicknamen "oasupp" auf Ähnlichkeiten zwischen beiden Bands aufmerksam machte.
Denn der Opener "Bereit!" prescht schon dermaßen ungestüm um sich schlagend aus den Boxen (das "Brüllen der Motoren", da war es also endlich) mit der simplen, aber genialen Idee kombiniert, den ganzen Song an zwei einzelnen, immer wiederkehrenden Gitarrentönen aufzuhängen, die sich sofort festhaken, so daß man ihn bereits nach dem ersten Hören kaum noch aus dem Ohr kriegt.
Was auch noch ein Merkmal der Platte ist, welches sofort auffällt, sind die Texte. Sie sind relativ simpel und endreimig, was mir (vor allem im HipHop- Bereich) meistens eher unangenehm aufstößt, aber Fezer hat echt ein Gespür für Bilder und zudem noch die Angewohnheit, altbekannte Phrasen, die man im Leben schon bis zur Blödwahnigkeit gehört hat, da sie von allen möglichen Medien- und Autoritätseseln in gräßlich automatisierter Redundanz wiederholt werden, fließend in die Lyrics einzubauen (sehr schön: "Könntest du das nochmal wiederholen? Ich glaube wohl, da hab ich mich verhört." "Was soll bloß aus Deutschland werden? Wenn's nach ihm ging, hieß es einfach 'Rübe ab'. "), daß es einem ein Grinsen entlockt, und das ganze zudem mit allerlei Lautmalereien ("Ah ah uh", "Bababaah" etc. pp. uga uga) aufzupeppen, die perfekt als Hookline funktionieren. Dabei ist das Ganze erstaunlich clever, ohne diesen penetranten "Kunst"- Anspruch plakativ vor sich herzutragen, der mir viele neuere deutsche Bands nicht nur verekelt, sondern- gemessen an ihren schreiberischen Fähigkeiten- mich dazu auch noch ihrer maßlosen Selbstüberschätzung versichert (steinigt mich).

Hooklines: die Jungs haben einfach ein Händchen dafür. In jedem Song findet man eine prägnante Stelle. Im zweiten Song "Standortvorteil", ähnlich geartet wie der Opener, ist es die Textzeile "Du bist nur eine Übergangsregierung, die Chancen stehen gut, daß du überflüssig wirst" ,die sich in den Vordergrund spielt, bei der Single "Gott hat keine Flugzeuge", ein im Vergleich zum Start eher betulich dahinschrammelnder (und meiner Meinung nach auch schwächerer) Song ist es ein simples "Ich weiß es ganz genau",daß sich mit beängstigender Penetranz ins Gedächtnis brennt.
Weiter geht's mit einem leiernden Gitarrenriff, welches "1970" einleitet, einen Song, der wahrlich nichts für empfindliche Gemüter ist und in seiner hypernervösen Art wohl am ehesten an jemanden erinnert, der einen epileptischen Anfall bekommt und dabei eine Treppe herunterfällt.
Aber eine Verschaufpause ist bereits in Sicht, und zwar mit dem Hit der Platte, ein nicht gerade origineller, dennoch herausragender Monolith von einem Song: "Mann in Uniform". Das offensichtliche Gang Of Four- Zitat weist bereits die Richtung: eine von (*Innenhülle rauskram*) Timor Cirak gespielte Darbuka (was immer das auch sein mag, es ist jedenfalls perkussives Getrommel) leitet eine fette, pumpende Baßlinie und einen (*hust*) Mördergroove ein, der die Beine nicht stillstehen läßt. Es tut mir leid, aber wer dazu nicht tanzen kann, ist von den Socken aufwärts tot, auch wenn es heißt "In diesem Titel kein Wort von Disco".
Ein weiteres New- Wave- Punk- Gefrickel ("Das Ende der Experimente", feat. "Bababaaa" und ekstatisch-manischem 80er- NDW- Synthiesolo) leitet zu dem für mich wichtigsten Song über: "Rue Love".
Laut Fezers Aussage im INTRO kam ihm die Idee zum Titel, als er vor einem Club namens True Love stand, bei dem in der Leuchtschrift das "T" ausgefallen war. So weit, so gut. Der Text gefiel mir bereits von Anfang an, seitdem ich jedoch eine Lebenssituation hinter mir habe, auf die er paßte wie der Arsch auf den Eimer, hat er eine besondere Bedeutung für mich:

"Mein Stabilitätspakt, Stabilitätspakt
wird Tag für Tag verletzt
Sanktionen, Sanktionen
ausnahmsweise ausgesetzt
Gut zu wissen, schön zu sehen,
daß anderen sowas auch passiert
Rolle rückwärts, Rolle rückwärts
seh mich um und bin bei dir."


Erstaunlich, daß eine Band, die nach eigener Aussage ihren Texten wenig Bedeutung beimißt, manchmal den Nagel dermaßen auf den Kopf treffen kann. Dazu taucht dann am Ende noch ein Waldhorn (!), gespielt von Harald "Sack" Ziegler auf.
Die B- Seite startet mit "Pop Anamur", quasi dem Titelsong (dank dem "Navigator" im Refrain) gleich wieder durch, mit einem Text, der die ständige Jagd nach den neuesten Hypes beschreibt:
"Zeig mir die neue Idylle, ruder rum um hundertachtzig Grad, Steuer hart backbord, wird langsam wieder Zeit", während "Mehr Rockelemente", eigentlich ein Mitgrölhit vor dem Herrn, von einem völlig vertrackten Rhythmus eingeleitet wird, der das Ganze erstaunlich konterkariert.
Apropos "konterkariert": zu jedem Song was zu schreiben, ist müßiges Gewürge, denn es geht nunmal stilistisch zumeist in eine Richtung, die man entweder mag oder es bleiben läßt.
"Was soll's" und "Stopf alles rein!" sind noch einmal schnelle Smasher, die man auch mögen wird, wenn man die Platte bis dahin mochte, "Unsere Mission" ist der augenzwinkernde Abschluß der Platte, wieder mit Mitgrölrefrain, Waldhorn und der unsterblichen Textzeile "Der Weisheit letzten Schuß hab ich mir eben grad gesetzt, auf einem furchtbar sauberen Klo, da stand schon vorher drauf
"Besetzt",
und was noch aus dem Rahmen fällt ist das nahezu epische Ausmaße annehmende "Fünf Uhr morgens".
Dieses entstand für (ausgerechnet) einen Gunther- Gabriel- Tributesampler (ohne Witz),ist also ein textlich modifiziertes Gabrielstück (der als Titelfigur "Gunther" auch im Text auftauchen darf) und ein auf einer dominanten Baßlinie einbeinig durch die im Text beschriebene Nacht hüpfendes Stück, das eine richtige, zutiefst trostlose Geschichte erzählt, die man nachvollziehen kann, wenn man sich jemals zu später Stunde vor lauter Elend in irgendwelchen Spelunken am letzten Bier festgehalten und sich dabei von irgendwelchen Grenzdebilen die Welt erklären lassen hat.

Somit

ist die Platte zuende und die Zeit für ein Fazit gekommen. Wie diverse Rezensionen zeigen, haben es Trend durchaus nicht einfach. Viele Leute störten sich am "unsympathischen" Gesang und am nervtötend frickeligen 80er- NDW- Einschlag. Umso spannender ist es, was da noch kommen wird, denn die dritte Platte steht in den Startlöchern, diesmal auf einem Major- Sublabel (im Moment noch alles Spekulation, da ich schon länger keinen der Jungs mehr getroffen habe und fragen konnte), und die letzte Single hat mittlerweile via Albert Koch auch endlich mal den Einzug in den MUSIKEXPRESS gefunden.
Für mich ist es natürlich auch großartig und sehr spannend, was aus den Jungs wird, und zeigt auch, daß es eine Art Gerechtigkeit gibt, wenn sich 15-20 Jahre konstantes künstlerisches Arbeiten endlich mal auszahlen... zumal es auch für unsere Region sehr wichtig ist, wenn endlich mal jemand davon überzeugt wird, daß es bei uns nicht nur Hinterwäldler gibt, die kein Deutsch sprechen und mit den Händen rohe Kartoffeln fressen.
Unterdessen bleibt mir "Navigator"... mittlerweile dürfte ich die Platte 40 Mal gehört haben, und sie wächst immer noch und hält Entdeckungen bereit.
Danke, Jungs. Ich freue mich auf's nächste Mal.

[Nachtrag vom 04.10.11: Heidewitzka, fand ich den Text schlecht, als ich ihn in der Urfassung erneut las. Demzufolge habe ich an ihm ebenfalls sehr viel herumgefeilt, -gesägt und -gebastelt, um ihn halbwegs ohne ein immenses Gefühl der Peinlichkeit auf die Menschheit loslassen zu können.
Die Euphorie im absichtlich im Original belassenen Schlußwort hielt leider nicht lange vor...zwar machten Trend mit dem Nachfolger "Vier" tatsächlich Anstalten, endgültig durchzustarten, aber nachdem sich Boris aus gesundheitlichen Gründen aus der Band verabschiedet hatte, kam selbige leider nicht mehr richtig aus dem Quark und ist mittlerweile sanft entschlafen. Schade.]

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