Montag, 31. Oktober 2011

Bohemian Rhapsody

Ich verbringe die Tage immer noch bei meinen Eltern.

Der Krankenschein ist eingereicht, die Begleiterscheinungen der Operation lassen allmählich nach (mittlerweile kann ich wieder ohne Hilfe Treppen steigen und mich alleine anziehen, beides Tätigkeiten, die vor gut einer Woche nur mit Schmerzen verbunden waren) und mache ansonsten ... nichts.

Schlafen, fernsehen, mich bekochen lassen.
Mancher würde das toll finden; mir kommt es eher befremdlich vor. Vor allem, wenn ich mir das Leben betrachte, das ich bis zu meinem Krankenhausaufenthalt geführt habe; das ist knapp über drei Wochen her, aber durch die Ereignisse in den letzten Tagen dermaßen in die Ferne gerückt, daß Erinnerungen daran wirken wie ein Gruß aus längst vergessenen Zeiten.
Momentan kann ich mir nicht einmal vorstellen, in die Bar Milano zu gehen, ein großes Pils zu ordern und nach der Bundesligakonferenz im Fernsehen direkt in die Stadt weiterzuziehen.
Das soll kein Indiz dafür sein, daß ich nun, da ich schon mit anderthalb Beinen im Grab stand, mein Leben überdenke und zum Ergebnis komme, es künftig anders führen zu wollen.
Mich an einfachen Dingen erfreuen, Demut zeigen (auch dem Schöpfer gegenüber, der mich bestimmt verschont hat, um mir eine Lektion beizubringen), täglich joggen, kein Alkohol und Nikotin mehr, gesunde Ernährung, bewußter... Leben.
Fuck it.

Stattdessen sitze ich mit meinem Vater am Küchentisch, wir erzählen uns gegenseitig schlechte Witze, rauchen Zigaretten, als würden sie morgen verboten, trinken literweise Kaffee und ich hoffe dabei, möglichst schnell soweit fit zu werden,daß ich mich ohne Gefahr für Leib und Leben einmal wieder hemmungslos besaufen und dabei zu lauter Musik Sackgitarre spielen kann.

Solange beschränkt sich mein Dasein auf eine Abfolge von Déjà- Vues.
In der vorigen Woche verbrachte ich nämlich in Ermangelung anderer Freizeitangebote einen Großteil des Tages vor dem Radio, um mir die alle paar Jahre wiederkehrenden Top 1000 Hörercharts auf SWR1 Rheinland- Pfalz anzuhören. Und das rund um die Uhr.
Seltsamer Zufall, gerade jetzt Texte gepostet zu haben, in denen eben jene Hörercharts eine essentielle Rolle spielen.
Auf jeden Fall war es zumindest leidlich spannend, viel mehr konnte ich nun wirklich nicht erwarten, auch wenn die ungesunde Häufung von Peter Maffay, ABBA und AC/DC bei mir fast schon zu schweren, postoperativen Nachblutungen geführt hätte.
Die Top 30 versammelten natürlich von "Smoke On The Water" über "Lady In Black", "Hotel California", "Music" und "Stairway To Heaven" die für alle Ewigkeiten in Grütze geronnenen Abgezahntesten der Abgezahnten, bei denen man sich ernsthaft fragt, wie die ein Mensch über 30 auch nur noch sekundenlang erträgt, ohne einen Narkolepsieanfall zu bekommen. In meinem Alter dürfte man nämlich jeden der genannten Titel schon 447mal im Leben gehört haben, egal, ob man das gerade wollte oder nicht.

Erster wurde am Ende "Bohemian Rhapsody" von Queen. Nicht minder totgenudelt wie die bereits aufgeführten, aber deutlich noch als das Erträglichste davon wahrgenommen.

Da war ich offensichtlich bereits völlig apathisch.

Freitag, 28. Oktober 2011

Nachklapp

Das waren nun also meine "15 Platten", von denen einige bereits gesetzt waren und es klar war, daß ich darüber schreiben würde, andere Texte entstanden spontan aus einer Laune heraus.

Will heißen: ein Teil der Liste hätte auch ganz anders aussehen können.
Die aufgeführten Alben sind für mich essentiell; ich würde auf keines davon verzichten wollen. Aber es gibt Alben, die stehen bei mir im selben Rang, nur daß sie das Pech hatten, daß ich nicht wußte, was ich dazu schreiben soll... bzw. wurden sie in etlichen Musikmagazinen dermaßen kanonisiert, daß mich die Aufgabe, Geschriebenes wiederzukäuen, einfach nicht reizte.
Mein absolutes Lieblingsalbum aller Zeiten- und da mag noch kommen, was will- ist "Fun House" von den Stooges.
Ein weiterer Kandidat, der es nicht in die Liste schaffte, ist "Relationship Of Command" von At The Drive-In... ganz zu schweigen von den Melvins, NoMeansNo, Girls Against Boys, Killing Joke... und weiteren Lieblingsbands von mir.

Was ich sagen möchte: diese Liste hat bei weitem nicht den Ruch der Unfehlbarkeit, der einem wohl bei diesem Thema automatisch entgegenschlägt. Es war eine Herausforderung, die sehr viel Zeit und Geduld erfordert hat, auch eine Art Antwort an mich selbst, ob ich in der Lage bin, dermaßen ausgiebig über Musik zu schreiben, ohne Menschen zu Tode zu langweilen.

Ob das hier in diesem Rahmen funktioniert hat, weiß ich nicht; dort, wo die Texte ursprünglich veröffentlicht waren, hat es das. Es gab auch triftige Gründe dafür, sie nun in einer derartigen Hauruckaktion in meinen Blog zu hieven und noch einmal mit Schmirgelpapier darüberzugehen.
Es war ein Haufen Arbeit... zwar keine wissenschaftlich hieb- und stichfeste Meisterleistung, aber immerhin soviel, daß man seine Rechte an den Texten nicht unbedingt an jemanden herschenken möchte, mit dem man zerstritten ist. Das soll und wird diesen Textberg halbwegs plausibel erklären, hoffe ich doch.

Ich hoffe, auch für mäßig Interessierte sind ein paar lesenswerte Passagen dabei. Unterbrochen von meinem zwischenzeitlichen Beinaheableben hat mich meine momentane Rekonvaleszenzphase, verbunden mit viel zuviel Zeit dazu gebracht, das hier endlich zu beenden (auch, um mal wieder "normal" bloggen zu können, ohne den Gesamtzusammenhang komplett zu zerstückeln)... wobei mir auch der Umstand entgegenkam, daß bei den neueren Texten aufgrund gesteigerten Erzähl- und Leseflusses kaum noch Überarbeitungen notwendig waren.
Vieles in der Liste ist zwar nicht dazu angetan, den Geschmack eines breiteren Publikums zu treffen... aber wenn es manchem einleuchtende Gründe dafür geliefert hat, was ich an Musik finde, mit der er rein gar nichts anfangen kann, hat sich die stundenlange Arbeit für mich gelohnt.

Und somit möchte ich hiermit auch offiziell schließen... in der Hoffnung, vielleicht auch hier etwas mehr Kritiken und Meinungen zu erhalten als eine einzige (danke, Thomas).

15. Sixteen Horsepower: Olden

(erstmals veröffentlicht am 11.07.2010, überarbeitet am 28.10.2011)





Kommen wir zum Abschluß unserer kleinen Reihe. Ich wollte natürlich noch ein Album haben, das wiederum komplett aus dem Rahmen fällt, auch wenn ich dazu nicht übermäßig viel schreiben, sondern nur meine völlige Ergebenheit kundtun kann... insofern ist die Wahl natürlich folgerichtig.


Veröffentlicht:
18.08. 2003


Erstanden:
ca. 2004

im: Studio Eins, Karlsruhe


Besetzung:


David Eugene Edwards (voc/gt)
Pascal Humbert (?)
Jean- Yves Tola (dr)


Trackliste:


Night Owl Session

1. American Wheeze
2. Coal Black Horses
3. Scrawled In Sap
4. Prison Shoe Romp
5. I Seen What I Saw
6. Neck On The New Blade
7. Interview

Kerr Macy Session

8. South Pennsylvania Waltz
9. My Narrow Mind
10. American Wheeze
11. Shametown
12. Train Serenade
13. Strong Man
14. Interview

Live 1994

15. Slow Guilt Trot
16. Low Estate
17. Pure Clob Road
18. Heel On The Shovel
19. Sac Of Religion
20. Dead Run

Es steht geschrieben:

Und der HErr sprach:

"Ungläubiger, der du wandelst auf Erden, höre: verdammt sollst du sein zu kaufen dieses Tonträgererzeugnis, welches hier in meinem Namen zur Erde gesandt ward."
Und der Ungläubige wandte sein Antlitz ab und fürchtete sich sehr;
dennoch betrat er das Haus der Händler, denen er vertraute, zu erblicken das Erzeugnis aufgereiht in einem Regal.
Und darauf ward geschrieben neun Silberlinge;
als der Blutzoll ward entrichtet, ging er zur Hütte, in der er hauste, zu lauschen den unvertrauten Klängen.

Es stand in alten Büchern, daß unfertige Versionen enthalten seien;
doch es erschütterte den Ungläubigen nicht.
Denn auch die vollendeten Versionen hatte er nie gehört;
so daß der Eröffnungsreigen, der da benannt war mit "American Wheeze" sein Ohr umschmeichelte und seine Taubheit bezwang.
Eine Maultrommel erklang, ein pulsend Akkordeon rückte dräuend vorwärts; betäubend klang das Schlagwerk
und die Worte des heiligen Mannes, die da verbreitet wurden, waren voll der Tiefe.

Er sprach in fremden Zungen; verkündete in "Coal Black Horses" die Wiederkehr des Messias, dessen Herrlichkeit strahlen würde in alle Ewigkeit;
und alles war wunderbar, und die Seele der Musik ward eins mit dem Geist des Ketzers.
Zwiespältig war die Lust an dem Getön; seufzen mußte er ab und an und den Verstand entweichen lassen;
zu kraftvoll waren die heiligen Worte, und die Art des Vortrags rührte ihn sehr.

Welch Erhabenheit fand sich in jenen Sätzen, welch Größe und Kunst:


[...]
Yeah you may be the one come on son
Bring your blade and your gun
And if i die by your hand
I've gotta home in glory land

(American Wheeze)

Und wenn der Dichter sich dem Weibe widmete, ergriff es den Ketzer nur um so mehr:

[...]

to the moan in your voice
not a charm do you lack
your skin to touch as a black ravens back
but i cannot go far with these words as they rhyme
as to tell, of the pleasure, your hand in mine


and i pray as i say this song in this way
that your eyes they would close an your head begin to sway
and you'll feel how he heals with his blood on our skin
i am yours lady scrawled an thin[...]

(Scrawled In Sap)

Und es war jenes, was alles unterschied von den üblichen heiligen Gesängen;
der unterschwellige Wahnsinn, der lauerte, die Selbstkasteiung und der Rufer in der Wüste.
Holzhütten zerfielen in der Weite des Landes; große Windräder aus Holz sangen ihr Klagelied, angetrieben durch den Hauch von der Einsamkeit, geführt durch nichts als die Hand Gottes in dunkelster Stunde.

Mitten im Laufe des Tonträgers vernimmt man eine Stimme, die in da spricht:

"There's an intensity, whether you like it or not."

Selten ward die Wahrheit weiser ausgesprochen.



*Buch zuklapp*


Wenn es eine Platte schafft, mich zum Fan einer Band aus wahnsinnigen Wanderpredigern zu machen, die es sogar in Gegenwart recht unwilliger Ohrenzeugen ("Stell bitte diese Christenscheiße ab, oder ich steig aus") schafft, mich dermaßen gefangen zu nehmen, daß ich mich beinahe von der Platte verschluckt fühle;
wenn es sich bei ihr dabei noch dazu eigentlich um Resteverwertung handelt... Demoversionen, die in weniger abgespeckter Form auf den regulären Alben existieren, Radiosessions und Liveaufnahmen;
wenn sie mich noch dazu beim ersten Antesten dermaßen in ihren Bann gezogen hat, daß ich sie nach ca. 30 Sekunden des Openers sofort gekauft habe, um sie immer und immer und immer wieder zu hören, dann muß sie etwas ganz Großes und Bedeutsames sein, oder die Band, die sie veröffentlicht hat, eine der besten Gruppen aller Zeiten.
Oder beides.

"American Wheeze"

in der Version des Openers (neben den zwei Versionen hier findet sich das Original auf dem Debüt "Sackcloth'n Ashes") ist bis heute eines meiner absoluten Lieblingslieder.
Ich mußte mich zuerst einmal an die "regulären" Versionen gewöhnen, als ich die Vorgängeralben endlich einmal hatte; in dem Fall (und im Falle vom erstaunlich flotten "My Narrow Mind" [welches mich musikalisch setsamerweise an "Ice Cream For Crow" von Captain Beefheart erinnert]und dem "Prison Shoe Romp") kann ich das bis heute nicht. Vor allem letzterer ist durch seine punktgenaue Gitarre, mit der er einsetzt und bei welcher trotz aller surrealen Atmosphäre kein Ton zufällig entstanden wirkt, für mich einer der absoluten Höhepunkte der Platte... und wenn dann das Schlagzeug einsetzt, könnte ich, ja, ausflippen. Ein anderes Wort fällt mir gerade nicht ein.

Und die Texte sind dermaßen faszinierend, weil sie in ihrer tiefempfundenen Religiösität auch immer Abgründiges offenbaren.
Das mag nicht meine Welt sein; als große Kunst kann ich das trotzdem würdigen.
Auch wenn mich Absätze wie folgender schon manchmal fragen lassen, was ich mir da eigentlich antue:


[...]
Just as sure as by evil you are torn
The sky will open up an an angel blow his horn
an down come Jesus lookin' so fine
Just as sure as that girl she is mine....
[...]

(Coal Black Horses)


Nun denn. Aber ich habe eine Vorliebe für eine gewisse alttestamentarische Sprache, die noch dazu mit großen Bildern und Symbolen arbeitet... und was Sixteen Horsepower von anderen Quatschbands unterscheidet, ist das erstaunlich seltene Abgleiten ihres Pathos in Hohlheiten.


Große Kunst ist es auch,


eine größtenteils akustische Platte aufzunehmen, die trotzdem stellenweise derartige Zugkraft und Energie entwickelt, daß es einen mitreißt; Liebeslieder zu schreiben, die zum Teil derart pathetisch und prätentiös sind, daß es einen ekeln müßte, aber man stattdessen schwelgt und sich danach fragt, warum; ein Instrument wie das Akkordeon zu spielen, dessen Existenz (samt jener der Leute, die es sich umhängen) im Leben außerhalb dieser Platte zu 90% die pure Folter bedeutet, ohne daß es nervt, im Gegenteil.

Der Gesang mag Geschmackssache sein... daß es David Eugene Edwards häufig schafft, seine Stimme in ein Jodeln überkippen zu lassen, das vor allem in den ruhigen Stücken nur haarscharf an der Schmerzgrenze vorbeischrammt, steht außer Frage.
Genauso steht es aber auch außer Frage, daß die schnelleren Stücke mit ihrer (als Beispiel: "Heel On The Shovel" und gleich danach "Sac Of Religion") vertrackten Rhythmik einen nicht nur staunen lassen, sondern auch einen unglaublichen Bewegungsdrang freisetzen.
Und das bei staubiger Americana, die größtenteils von der Folklore der Appalachen (wer jemals eine Fernsehdokumentation über diese Gegend der USA samt der einheimischen Hinterwäldler gesehen hat, wird umgehend das Wort "Ziegenficker" in seinen Sprachschatz aufnehmen) beeinflußt ist.
Daß sich unter diesen Umständen in ihrem Gesamtwerk auch eine Coverversion von Joy Division findet, verwundert einen da letztendlich doch ("Day Of The Lords" auf "Hoarse"... nun, vielleicht ist es mit diesem Titel doch nicht sooo erstaunlich).

Ich frage mich noch heute, wieso es diese Band geschafft hat, daß ich ihr Oeuvre (abgesehen vom verschnarchten "Folklore"- Album) nicht nur gut, sondern großartig finde, und ihr zu Füßen liege wie kaum einer anderen Gruppe.
Erfreulich, daß es mir nicht als einzigem so geht.

Ein Freund von mir ist im Relapse- Board, also das Label, das der Welt nicht nur die ersten beiden Mastodon- Alben beschert hat, sondern auch- tatsächlich- "In The Eyes Of God" von Today Is The Day.
Eines Tages echauffierte sich ein User wohl über eine Platte mit den Worten "Wenn ihr so eine Scheiße veröffentlicht, könnt ihr auch gleich David Eugene Edwards signen."
Worauf sich der Chef von Relapse höchstselbst zu Wort meldete, und zwar mit nur einem Satz:


"Käme David Eugene Edwards zu mir ins Büro, würde ich ihm ohne Zögern einen unterschriftsreifen Vertrag hinlegen."


14. GG Allin & Antiseen: Rock'n Roll Terrorist

(erstmals veröffentlicht am 20.06.2010, überarbeitet am 28.10.2011)





Kann man auf "In The Eyes Of God" noch einen draufsetzen?
Klar doch.
Willkommen in der wunderbaren Welt der Mainstreamlieblinge:



In diesem Text

möchte ich eigentlich weniger eine Platte beschreiben, sondern eher die Gesamterscheinung (irgendeiner muß es ja tun);
deshalb verzichte ich auch bewußt auf eine Trackliste (die angesichts von über 30 Stücken auch wirklich niemand braucht) und zusätzliche Informationen.

Das Doppelalbum ist eher gewählt, um jemanden zu würdigen, mit dem ich- der ich durchaus immer eine Faszination für das Abwegige hege- immer noch und immer gerne Leute schockieren kann und der mich schon seit 15 Jahren durch mein Leben begleitet. Deshalb eine Art "Best Of", die hauptsächlich an Fanclubs verschickt wurde, bevor sie in den regulären Handel gelangte.
Die Auswahl klingt wie ein spätpubertäres Privatvergnügen; sie hat aber einen plausiblen Hintergrund.


Müßte ich


eine Leitlinie für mein Leben ausgeben, oder ein Ideal, dem ich folge, in einem Wort zusammenfassen, wäre dies "Konsequenz".
Auf neudeutsch: "Practice what you preach."

Menschen, die mich mehr oder weniger gut kennen, dürften wissen, was ich meine.
Ob ich mich immer an meine Grundsätze halte, sei mal dahingestellt; es ist müßig, sich selbst zu charakterisieren, und oft weicht das Selbstbild in haarsträubender Weise von der öffentlichen Wahrnehmung ab.
Das Wort "Konsequenz" ist für mich variabel anwendbar: ich kann auch einem erklärten Gegner durchaus Respekt zollen, wenn er seine Ziele geradlinig nach den Maßstäben, die er sich selbst gesetzt hat, verfolgt.
Zwar macht ihn das nicht weniger zum Gegner, vulgo: weniger hassenswert, wenn wir ins Extrem gehen wollen, aber ich kann ihn zumindest ernstnehmen.

Und auch wenn- nur ein Beispiel- Bekkay Harrach und ich sicherlich in diesem Leben keine Freunde werden und es im Bereich des Möglichen liegt, daß mich ein Sprengsatz, den er in Auftrag gegeben hat, irgendwann durch die Decke eines U- Bahn- Waggons bläst (auch wenn ich nichts weniger glaube und fürchte als das), so muß ich ihm doch zumindest attestieren, seine Ziele, die exakt konträr zu meinen sind, konsequent zu verfolgen.

Wenn nun

also jemand von sich behauptet, die Menschheit und das Leben abgrundtief zu hassen sowie alles, was die Gesellschaft repräsentiert; selbst eine Haßfigur und ein Bürgerschreck sein möchte, ja, dies vehement einfordert; Tabus brechen möchte, die so extrem sind, daß sie sogar Wohlmeinende vor den Kopf stoßen;
wenn jemand demzufolge wirklich behauptet, es sei ihm scheißegal, was jeder von ihm hält... wird er es trotzdem selten schaffen, dies alles umzusetzen.
Darum glaube ich, daß es nur einen einzigen Menschen im "künstlerischen" Bereich gab, der bereit war, diesen Weg zu gehen, und das macht ihn so einzigartig, wie es seine Faszination, die ich für ihn empfinde, zu erklären vermag.

Daß ich nicht alleine damit bin, beweist die Liste der Musiker, die Songs von ihm gecovert haben, unter anderem finden sich in der illustren Liste Faith No More, die Lemonheads und sogar Beck.





GG Allin wurde


am 29. August 1956 als -ohne Witz- Jesus Christ Allin in Lancaster im beschaulichen New Hampshire geboren.
Der Einfachheit halber greife ich mal auf ein Zitat aus Wikipedia zurück, denn allein die Umstände seiner Geburt und Kindheit sind eine Erwähnung wert:

"He was given this messianic name because his father, then 33 years old and a fanatical Christian, told his wife, then 20 years old, that Jesus Christ himself had visited him and told him that his newborn son would be a great and all powerful man in the vein of the Messiah.
His older brother Merle Colby Allin, Jr. was unable to pronounce "Jesus" properly and kept calling him "Jeje", which became "GG". The family lived in a log cabin with no water or electricity in northern New Hampshire. Allin's father, who forbade all conversation in the home after dark, was a religious fanatic and an antisocial man, and was physically abusive towards his wife and children, though GG himself never used this as an excuse for any of his personal troubles."


Nach der Scheidung seiner Eltern zog die Mutter mit den Brüdern nach Vermont und änderte GG's Namen in Kevin Michael Allin.
Er war ein schlechter Schüler und besuchte Förderkurse; in Deutschland hätte man ihn wahrscheinlich auf eine Sonderschule geschickt.
Auch andere Berichte beschreiben ihn als nicht übermäßig intelligent; das läßt die Vermutung, daß er sonderlich tiefsinnige Gründe dafür vorgebracht hätte, sein Verhalten in den Kontext "Performancekunst" zu rücken, als ziemlich abwegig erscheinen.


Wann er sich


dazu entschied, den "Nonkonformismus, die Rebellion und die Gefährlichkeit zurück in den Rock'n Roll zu bringen", ist nicht genau festzumachen.
Schon in seiner Schulzeit begann er, bei Theateraufführungen das Publikum zu provozieren, in dem er während eines Stückes, an dem er mitwirkte, begann, die Dekoration zu demolieren.
Nach der Schule wurde er 1977 Frontmann bei den Jabbers, die den für die damalige Zeit in den USA typischen Punk mit Rock'n- Roll- Erdung im Stile der Stooges oder der Dead Boys spielten.
Jedoch wurde er irgendwann dermaßen unzurechnungsfähig, daß sich die Band allmählich weigerte, mit ihm aufzutreten.
Auch sein Konsum aller erdenklicher Drogen begann in jenen Jahren, inklusive seiner Heroinabhängigkeit.

Zu dieser Zeit fing er an, mit diversen Bands Platten aufzunehmen.
Die Liste seiner Mitmusiker ist bizarr; selbst J. Mascis von Dinosaur Jr. findet sich darauf.
Ab Mitte der 80er wurden seine Liveauftritte immer extremer; er schluckte vor Auftritten Abführmittel und begann öffentlich zu scheißen, sich in seiner Kacke zu wälzen und sie zu fressen.
Doch das sollte nur der Anfang sein: es folgten Nacktauftritte mit Masturbation und Selbstverstümmelung; alle sexuellen Spielarten auf der Bühne, unter anderem mit seinem eigenen Bruder, der als Gitarrist in den Bands tätig war, und toten Tieren; sowie gewalttätige Angriffe auf das Publikum. Insgesamt wurde er 52mal verhaftet, in erster Linie wegen Drogen, Körperverletzungen und Erregung öffentlichen Ärgernisses.





Er lebte


körperlich verwahrlost in einem heruntergekommenen Loch und hielt sich offiziell mit dem selbst getätigten Verkauf seiner Platten über Wasser, inoffiziell auch mit Einbrüchen, Drogendeals und kleineren Raubüberfällen, wenn er nicht gerade im Knast saß oder wegen der Verletzungen, die er sich bei seinen Auftritten zufügte (Blutvergiftungen; Knochenbrüche) im Krankenhaus lag.

In dieser Zeit begann er auch eine intensive Brieffreundschaft mit dem Serienmörder John Wayne Gacy, der wegen des Mordes an 33 jungen Männern, die er vergewaltigt, erdrosselt und in seinem Keller vergraben hatte, 1994 hingerichtet wurde.
Daß dieser vor seiner Enttarnung ein angesehener, wohlhabender Bürger war, der bei Benefizveranstaltungen zugunsten krebskranker Kinder gerne als "Pogo der Clown" auftrat und als Lieblingsmusiker Elton John und REO Speedwagon angab, soll hier nicht unerwähnt bleiben.

Doch bevor es zu arg ausufert (wir haben noch einen langen Weg vor uns):

über Allin im einzelnen könnte ich hier Seiten schreiben.
Erwähnt sei, daß er vorhatte, auf der Bühne Selbstmord zu begehen (und außerdem einen Teil des Publikums mit in den Tod zu reißen), was er ständig ankündigte; daraus wurde leider nix, denn freundlicherweise starb er vorher von ganz alleine.

Nach einem

Konzert am 28. Juni 1993 in New York wurde er- nur mit einer Lederjacke und einem Slip bekleidet und völlig verdreckt- in der Wohnung eines Bekannten tot aufgefunden.
Sogar da brach er noch Tabus: beim Begräbnis veranstalteten seine Kumpels und sein Bruder eine völlig entfesselte Party, flößten der Leiche Whisky und Drogen ein und ließen sich mit ihr photographieren.
Beerdigt wurde er auf Willen seines Bruders hin so, wie man ihn aufgefunden hatte: weitgehend nackt, dreckig und mit einer Flasche Jim Beam in der Hand.
Ein schönes Erinnerungsphoto mit Liner Notes von Kim Fowley gibt es auf dem posthum erschienenen Album "Brutality And Bloodshed For All" (zärtliche Momente reinster Poesie, was Songtitel wie "Anal Cunt" oder "Kill Thy Father, Rape Thy Mother" beweisen), und auch heute noch pilgern Fans zu seinem Grab, um dort Drogen und Alkohol zu deponieren oder es in stiller Andacht... mit Scheiße zu beschmieren. Unglaublich, aber wahr.







GG Allin ist

einer der Musiker, bei dem die Musik ohne Kenntnis der Lebensgeschichte schlicht und ergreifend nicht funktioniert. Punkt.

Wie erwähnt ist die Platte eine Fanclubedition, die seine bekanntesten Songs auf einem Doppelalbum zusammenfaßt, was angesichts der wirren Veröffentlichungspolitik im Punkrockbereich nicht die schlechteste Idee ist. Es gibt Unmengen Singles und 10"-es, vieles davon ist furchtbarer Schrott, der nur für Komplettisten interessant ist.

Das Label BOMP! Records, das auch bereits unter anderem Stooges- Raritäten zugänglich gemacht hat, hat sich auch um diesen Nachlaß gekümmert, im Gatefoldcover mit allerlei nützlichen Linernotes.
Was die Musik angeht, gibt es eine erstaunliche Feststellung: GG Allins Songs mögen im besten Fall garagig, im schlimmsten Fall gar nicht produziert sein, sind aber trotzdem in erster Linie größtenteils konventioneller Punk-Rock'n Roll (in dem tatsächlich ab und zu Gitarrensoli auftauchen), wenn auch häufig rumpelig gespielt und ohne Sinn und Verstand auf Überlänge gestreckt, ohne daß Substantielles passieren würde.

Musikalische Relevanz? Ach, geh doch fort. Als käme es darauf an.

Unerwähnt soll trotzdem nicht bleiben, daß GG Allin aber auch (meiner Meinung nach strunzlangweilige) Singer-Songwriter- bzw. Countryalben aufgenommen hat, die durchaus Leute überraschen, wenn sie sie zum ersten Mal hören.
Die Texte sind da natürlich immer noch ziemlich weit draußen und musikalisch dürfte das akustische Geschrammel wahrscheinlich auch nicht dem Konsens entsprechen, aber... immerhin.

Begleitband sind auf den hier vertretenen Songs größtenteils die von mir sehr gemochten Antiseen, über die ich ebenfalls aufgrund ihrer Ausnahmestellung einen Mordsriemen schreiben könnte.

Eine rechtskonservative Punkrockband aus den Südstaaten, deren Sänger Jeff Clayton früher Wrestler war, was zwar allerlei seltsame Gäste auf ihren Platten erklärt (unter anderem den bizarren schwarzen Riesen "Abdullah the Butcher", der gerne mal als Ansager fungiert), aber nicht, warum sie trotz fortgesetzter politischer Unkorrektheit zum Liebling linker Punkrockmagazine wie dem OX mutieren konnten.
Es mag vielleicht daran liegen, daß sie unter anderem mit Blowfly (ja, DEM Blowfly... dem 80er- Pornorapper, dessen Hauptarbeit darin bestand, Covers aktueller Hits mit versauten Texten aufzunehmen und der Welt Pretiosen wie "Too Fat To Fuck" zu bescheren) auf Tour waren, nachdem er für seine letzte Platte unter anderem zwei Antiseen- Songs mit neuen Texten versehen und gecovert hatte, so daß sich eine merkwürdige Freundschaft entwickelte.
Da mag das sonstige Gebaren der wilden Männer für das linke Punkestablishment vielleicht unter Ironie fallen.
Weil ein Bekannter von mir auf Tour für die Jungs als Fahrer tätig ist und sie relativ gut kennt, weiß ich mit Sicherheit: nö. Aber dieser Glaube rettet wahrscheinlich das wankende Weltbild der OX'ler. Wo waren wir? Konsequenz?

Retten wir uns in eine kleine Rechenaufgabe:




+




=





Das mußte jetzt sein, sonst glaubt einem das doch wieder kein Schwein.


Aber weiter im Text:


da die Songs halbwegs chronologisch angeordnet sind, kann man gut den Wandel der Schwerpunkte verfolgen:

singt sich ein juveniler Allin noch mit relativ klarer Stimme durch sein frühes Repertoire, das hauptsächlich mit Ficktexten zu provozieren weiß, was Anfang der 80er noch hervorragend funktionierte (die Masturbationshymne "I Wanna Fuck Myself", beispielsweise, oder der ultimative Ratgeber für Menschen, die keinen Geschlechtspartner finden können: "Fuckin' The Dog"), muß er in den 90ern schwerere Geschütze auffahren, um sein Niveau zu halten.
Mittlerweile mit einer Stimme ausgestattet, die selten mehr ist als ein verzerrtes Röhren und klingt wie ein Uruk- Hai, werden textlich alle Provokationen aufgefahren, die sich denken lassen: Gewaltphantasien, Pädo- und Nekrophilie, Auslöschung der eigenen Familie (möglichst sadistisch), Aufrufe zum Mord an Polizisten und dem Präsidenten der USA und- hier nicht enthalten- rassistische Äußerungen (der Song "No Room For Niggers" ist nur auf obskuren Wegen erhältlich). Doch zu letztgenanntem später.

Meine Favoriten auf dieser Platte:

"Bite It, You Scum" ist natürlich der Überhit und wurde von allen möglichen Leuten gecovert... das mag daran liegen, daß der Text als einer der wenigen hohes Identifikationspotential bietet und als gereckter Finger in Richtung Establishment auch gemäßigteren Menschen durchaus aus der Seele spricht (Jessas, was ein geschwollenes Gefasel):

Well you want me to kiss your ass
Well bend over, buddy, here comes my foot
I don't need your cry ass shit
Temper's rising, take a fit

Bite it you scum
Bite it you scum
Bite it you scum - Here I come
Bite it you scum

Well you want me to contribute
All I got is blood for you
All you want is more and more
Gluttony, you pig you whore

Bite it you scum - Here I come
Bite it you scum - I want your cum
Bite it you scum - Um, yum
Bite it you scum

One day when your end is near
I'll be laughing at your fear
When you're gone there'll be no one
Who'll be fucking up my fun - No one


Dazu der Stampfer "Violence Now", der militärischem Drill nachempfunden ist; die oben erwähnten alten Punkrocksongs wie "Drink, Fight And Fuck" oder "You'll Never Tame Me".
Die späteren Sachen wie "Murder For The Mission", "99 Stab Wounds" oder "Sister Sodomy" mit ihren Mitsingrefrains (jawohl) habe ich bereits auf einem separaten Album.
Daneben natürlich auch- bei dieser Anzahl von Songs- einiges an Ausschußware:

müllig aufgenommener uninspirierter Rotz, der teilweise nicht enden will, oder besoffenes Gerumpel von einem Haufen talentfreier Sozialfälle.
Doch wie erwähnt, ist die Musik in diesem Fall eher untergeordnet.


Darum will


ich lieber nochmal auf GG Allin selbst in seinem Endstadium zurückzukommen:

daß er Anfang der 90er vor nichts mehr zurückschreckte, zeigt jene Anekdote, die mir über einen Umweg vom Bassisten der Noiserockband Tar aus dem Umfeld von Steve Albini überliefert ist.

Nach New York gereist, um mit Allin irgendwelche Songs einzuspielen, mußte er vor dem Büro der Plattenfirma erst einmal warten, bis GG dem Chef einen geblasen hatte.
Nach den Aufnahmen waren sie nachts zu Fuß zum Hotel unterwegs, als Allin in einem Schwarzenviertel begann, rassistische Parolen zu grölen und den Einwohnern anbot, sie mögen doch herunterkommen, er würde es mit ihnen allen aufnehmen.
"Solch furchtbare Todesangst", daraufhin der Basser von Tar, "hatte ich noch nie im Leben. Der Typ war irre."

Paßt es dann, daß Allin zu der Zeit eine schwarze Lebensgefährtin hatte und laut Aussage diverser durchaus integrer Leute "der netteste Typ" war, den sie "je im Leben getroffen" hatten?
Daß er auf der Uraufführung der GG Allin- Dokumentation "Hated" vom späteren "Hangover"- Regisseur Todd Phillips diesen nicht nur freundschaftlich, sondern auch sichtlich gerührt umarmte?

Man will das eigentlich nicht wissen. Unterm Strich bleibt nur die beabsichtigte Wirkung:


Drecksau,

Arschloch, asoziales Pack: man kann Allin alles nennen, man hat bestimmt nicht unrecht damit.
Der entscheidende Unterschied ist: es wäre ihm egal gewesen.

Und das ist in meinen Augen der richtige Geist... auch, wenn er auf einem Paralleluniversum existiert, das ich niemals im Leben betreten möchte.
Hierfür gibt es ebenfalls- abgesehen vom gesunden Menschenverstand, der aber nicht lückenlos über mich gebietet- einen sehr guten Grund:

Es gab

in den 90ern in Karlsruhe ein Fanzine namens "Toilet Rock", das sich auf Allin berief.
Als ich dann sah, welch Gesindel aus dessen Dunstkreis 1995 beim Antiseen- Konzert ins Substage gespült wurde (Höhepunkt: ein Typ in Bomberjacke mit Motörhead- Rückenaufnäher, durchsichtiger schwarzer Damenstrumpfhose ohne Unterwäsche, so daß man sein Gemächt begutachten konn- ähm, mußte, und Springerstiefeln), hatten ich und ebenso die mit mir anwesenden Leute sofort die Eingebung, daß man es doch nicht zu übertreiben braucht.
Andere Leute hatten da weniger Glück: der Toilet Rock- Typ, der sich sturzbetrunken während der Vorband auf den Boden legte, seinen Schwanz auspackte und von der Security rausgetragen wurde, als er begann zu wichsen, soll dem Vernehmen nach ab dem nächsten Tag nie wieder einen Tropfen Alkohol angerührt haben.

Das Leben ist doch eines der Schönsten.

13. Today Is The Day: In The Eyes Of God

(erstmals veröffentlicht am 19.06.2010, überarbeitet am 28.10.2011)




Veröffentlicht: 1999


Erstanden:
2000 oder 2001

in: diesmal muß ich passen. Auf jeden Fall in einem Plattenladen bestellt.




Trackliste:


1. In the Eyes of God
2. Going to Hell
3. Spotting a Unicorn
4. Possession
5. The Color of Psychic Power
6. Mayari
7. Soldier of Fortune
8. Bionic Cock
9. Argali
10. Afterlife
11. Himself
12. Daddy
13. Who Is the Black Angel?
14. Martial Law
15. False Reality
16. The Russian Child Porn Ballet
17. The Cold Harshness of Being Wrong Throughout Your Entire Life
18. Honor
19. Worn Out
20. There Is No End


Besetzung:


Steve Austin (voc, gt)
Bill Kelliher (b)
Brann Dailor (dr)

Zu dieser Platte

kann ich nur einen relativ kurzen Text verfassen, auch weil sie vielleicht für mich nicht mehr dermaßen relevant ist, wie sie es einmal war.
Da letzteres in erster Linie auch persönliche Gründe hatte, von denen ich hier nicht allzuviele preisgeben möchte, wird die Arbeit am Text noch mehr eingeschränkt. Warum also muß sie hier rein? Als Gruß aus vergangenen Zeiten?

Es gibt Platten, die man einmal sehr mochte, und die- auch wenn der musikalische Stellenwert im Lauf der Jahre verblaßt ist und man sie recht selten hört- trotzdem nicht mehr hergeben möchte, denn sie waren da, als man sie brauchte, als die Situation es erforderlich machte.
Fast wie Freunde, zu denen der Kontakt abgerissen ist, für die man aber jederzeit wieder die Hand ins Feuer legen würde, wenn die Notwendigkeit bestünde.

[aktuelle Anmerkung: habe diese Platte kürzlich einmal wieder herausgekramt und angehört. Das hat so gut funktioniert, daß sämtliche oben erwähnten Zweifel bezüglich ihres Stellenwerts hinfällig sind.]

Deswegen ist das vielleicht auch mehr als eine Plattenkritik im herkömmlichen Sinne: kein freudiges Aufgedrösel von Songs, keine augenzwinkernde Empfehlung... denn es gibt eigentlich nichts Positives, was Leute veranlassen könnte, sich diese Platte freiwillig komplett anzuhören.

Denn wenn es eine Platte gibt, der ich die Eigenschaft "böse" attestieren müßte: hier ist sie.

Wieviel Haß kann man in eine Stunde Musik packen, und dies in einer Intensität und Unzurechnungsfähigkeit, die Bands, die sich dieses Wort plakativ auf ihr Banner schreiben, wie musizierende Maulwürfe aussehen läßt?
Wie kann ein Mensch sich das überhaupt anhören und für sich etwas Brauchbares extrahieren?
Und vor allem: wie kann man das anderen Leuten begreiflich machen?

Manchmal braucht es im Leben karthartische Akte, um wieder zu Verstand zu kommen, etwas, was einen das Angestaute, das einem die Luft abschnürt, endlich hervorwürgen läßt.
Hat man keine Möglichkeit zur Kompensation, wird es ganz finster. Dann wird es Zeit, einmal die Skimütze aufzusetzen und seinen Arbeitgeber zu besuchen, die Universität, oder seine Familie in einer großangelegten Aktion auszuradieren, bevor man ins Grüne fährt, um sein Gehirn in die frische Waldluft zu blasen. Denn das ist die Crux mit karthartischen Akten: sie sind zumeist mit einem gesteigerten Mitteilungsbedürfnis verbunden, für welches dem Ausführenden selten einmal eine geeignete Plattform zur Verfügung steht.
Also läuft die Geschichte zumeist wie eben erwähnt. Kurzzeitig darf derjenige sich befreit fühlen, bevor er in den Orkus steigt, oder das Gefühl haben, er bestrafe seine Umwelt damit, wenn er auf einen Schemel klettert und seinen Kopf durch die Schlinge steckt.

Als Künstler hat man da den unbestreitbaren Vorteil, daß man der Welt ins Gesicht schleudern kann, wie sie einen ankotzt, ohne gleich Amok laufen zu müssen.
Man selbst fühlt sich um einiges befreit... und auch, wenn man es selbst vielleicht in dem Moment nicht einsieht, tut man sogar Gutes. Denn irgendwo da draußen gibt es Leute, die genauso empfinden und sich ein Werk zu eigen machen, um durch es zu sprechen, und im Idealfall sich am Ende genauso befreit fühlen.

Es muß während

der Arbeit am zweiten Album "Willpower" gewesen sein, als Steve Austin sich drei Jahre ausklinkte.
"Drei Jahre voller Depressionen und Scheiße", wie er in einem Interview sagte.
"Supernova", das Debüt von Today Is The Day, war noch experimenteller Noiserock nah an der Schmerzgrenze gewesen, aber in erster Linie schräg und nicht völlig humorfrei.

Selbiges konnte man von "Willpower" nicht mehr sagen: die schiere Verzweiflung, Wut, fühlbar gemachter Schmerz am Ende von Beziehungen.
Trotzdem gilt diese Platte in Noiserockkreisen als Klassiker, und das zurecht.
Musikalisch überragend, verband sie puren Krach mit teilweise unglaublicher instrumentaler Finesse, die bizarrerweise gar bis in Jazzkreise geschätzt wurde. Dazu brüllte Steve Austin entweder wie ein abgestochenes Schwein, oder sang... letzteres klang dann ungefähr wie ein Singer- Songwriter- Jammerlappen, dem man schwere Gegenstände an die Hoden gehängt hat.
Ein harter Brocken, fürwahr... und dadurch authentisch, daß er wohl den Beginn einer schlimmen Phase in Austins Leben markiert.
Das erkennt man wohl auch daran, daß "Willpower" sein bekanntestes, bestverkauftes und hochgelobtestes Album ist, er sich aber generell weigert, heutzutage bei Konzerten auch nur einen Ton davon zu spielen, auch wenn vereinzelte Songs frenetisch gefordert werden... und auch in Interviews nicht mehr auf die Platte angesprochen werden will.

Das war aber erst der Beginn der Fahnenstange.
Austin wurde völlig misanthropisch und wandte sich infolgedessen der "Church Of Satan" zu.

Das Ergebnis war (nach einem selbstbetitelten Drittwerk, das eher verzichtbar ist)"Temple Of The Morning Star", eine Platte in komplett neuer Besetzung (dies sollte nun zur festen Gewohnheit werden; Steve Austin wechselte fortan seine Mitmusiker bei jeder Platte aus).
Der Sänger lief zu dieser Zeit in weißen Wallegewändern herum, ließ sich einen Talibanbart wachsen und machte auf seine Umgebung den Eindruck, als wäre er komplett wahnsinnig... oder wie es ein Tourbegleiter sagte: "All that matters to him is hate and death".
Das Bandphoto zu der Platte spricht eindeutig dafür. Selten hat mir ein Bild, das bei anderen Musikern bestenfalls lächerliches Gepose wäre, derartige Schauer über den Rücken gejagt.
Bedauerlicherweise ist es nur noch sehr schwer im Netz zu finden, und wenn überhaupt, dann nur in zurechtgestutztem Format, das den Anblick um einiges verharmlost, denn beschränkt sich der Ausschnitt auf die Gesichter, ohne Körperhaltung und Details zu berücksichtigen, wirkt das Photo relativ unspektakulär. Anders in seiner ganzen Pracht: man sieht drei zottige Gestalten in schwarz- weiß, die vor einem Pentagramm an der Wand in weißen Gewändern wie Satansmönche in einem Horrorfilm wirken und irre in die Kamera starren, als begännen sie gleich zu knurren.
Wer einmal die Gelegenheit hat, den Anblick in seiner Gesamtheit auf sich wirken zu lassen, sollte dies schleunigst nachholen.

Nachdem die Band plötzlich weitgehend von der Bildfläche verschwunden war, kam "In The Eyes Of God", zu einem Zeitpunkt, zu der sie keiner mehr auf dem Zettel hatte.
An der Musikjournaille zog das Album weitgehend spurlos vorbei. Im VISIONS bekam es eine relativ halbherzige Wertung, auch wenn diese sich immerhin zu einem Interview herabließ.
Steve Austin erzählte darin recht abgedrehtes Zeug. Nackt hätte er die Aufnahmen absolviert, so erfuhr man, um "nichts Störendes zwischen sich und das Mikro zu lassen", die ungefilterte Energie sollte auf die Platte und ähnlich seltsamen und sinistren esoterischen Stiefel.
Neue Mitstreiter konnte er auch vorweisen: einen Schlagzeuger namens Brann Dailor und einen Bassisten namens Bill Kelliher, die beide nach dieser Platte einer Band namens Mastodon beitreten sollten.

Meine erste Begegnung mit diesem Album war auch eher unspektakulär: Nudeln essend saß ich bei meinem Freund Simon in Speyer am Wohnzimmertisch, als er die neue Today Is The Day hervorzauberte, die ihm schon fast zu irre war. Während ich also saß und aß, brüllte und blökte es aus den Boxen, und ich registrierte es nebenher mit Wohlwollen.
Die Platte wurde bestellt und ich war beeindruckt.
Selten hatte ich solch einen Klumpen reinster Misanthropie in meinem CD-Player.

"The apocalyptic vision of a criminally insane, charismatic cult leader" sagt der Nachrichtensprecher im Opener "In The Eyes Of God", bevor unfaßbar brutale Gitarren ein Riff herbeitreten und Steve Austin "I am the enemy. I gave you what you want. You live to piss on me. I'm not afraid of you." durch die Gegend plärrt, was gleich die künftige Marschrichtung vorgibt.

Im Break darf dann bereits Brann Dailor zu Gehör geben, was für ein Ausnahmedrummer er ist, was er später bei Mastodon noch perfektionierte, da ihm dort für seine halsbrecherische Aneinanderreihung von Patterns noch mehr Raum gelassen wird.

20 Stücke hat dieses Album, einige gehen nur knapp über eine Minute und sind straightes Black-/Deatthmetalgeholze, andere gehen in epische Breite über.
"Goin To Hell" etwa, das mit einem Kirchenchor beginnt, als brutaler Headbanger mit einer charakteristischen Gitarrenlinie, die man sogar nachpfeifen könnte, fortgesetzt wird, bevor der Song stufenweise durch völligen Tempoentzug zerstört wird, bis nur noch kakophonische Zeitlupensounds übrigbleiben, die völlig psychotisch klingen.
"I feel totally out of control"
heißt es da, vorgetragen in einem durch die Zähne gepreßten Ton, der auch ja keine Zweifel offenläßt, daß es der gute Mann ernst meint.


Überhaupt: die Texte.


Satan, Satan und nochmal Satan, allerdings als abstrakte Größe im Sinne negativer Energie, die einen am Leben erhält, und darauf laufen auch die meisten Inhalte hinaus: sich an seinen eigenen Haßgefühlen hochzuziehen, um dem Rest der Welt klarzumachen, daß man sich nicht unterkriegen läßt, daß man immer noch aufrecht steht.
Sozialdarwinismus. Abstruser Kram um bionische Superschwänze.Gewaltphantasien.
Harmlose Songtitel wie "Spotting A Unicorn" oder "Daddy", hinter denen der Wahnsinn lauert.
Andere wie "The Cold Harshness Of Being Wrong Throughout Your Entire Life", deren Titel bereits so aussagekräftig sind, daß man den Text eigentlich nicht mehr zu lesen braucht.

Mittendrin das doomige, monolithische "Mayari" als Hit der Platte:

Sorrow
In my cage I lose sight
Can't tell what's real wrong or right
You must try to pretend
Just try to fit in
Raise your fist to the sky
Lies cause cancer
Don't deny
You're the master
of my hell
I am I was born to be dead
You try and stop me
I'm gonna crush your skull
I feel so empty
You don't want to decide
If I live
I'm afraid of this world I don't
wanna live
Mayari
I don't owe you
can't make me I'm not your whore
Please don't rape me
I live to hate I fuck to live
I am messed up
I can never give in
I don't even know why


Immerhin: ein richtiger Song mit einem treibenden Gitarrenriff zum Kollektivbangen in der Metaldisco.

Am Ende kommt mit "There Is No End" noch ein textlich fragwürdiger Rundumschlag ("Niggers. Jews. Faggots. Whores",verpackt in ein sehr atmosphärisches Intro mit Gesang und langsamem Baß, bis die Gitarre wieder hereinplatzt und den Song explodieren läßt), der Steve Austin einen recht zweifelhaften Ruf einbrachte, so daß er sich bemüßigt fühlte, sich dafür in diversen Foren zu rechtfertigen und den beanstandeten Text genauer zu erklären... wobei ich nicht denke, daß dieser aus einer politischen Gesinnung heraus entstand, sondern eher mit der Intention, ohne Rücksicht auf Verluste alles plattzumachen, was einen den Ruf eines Humanisten einbringen konnte.
Den Abschluß bildet ein sehr obskures Quasiinstrumental, das anfangs ein wie in den Anfangstagen der Band mit elektronischen Sounds vollgestopfter Psychotrip ist und dann abrupt in einen ganz seltsamen Teil überblendet, der ungefähr klingt, als würde ein Haufen besessener Navajoindianer auf psychogenen Pilzen einen Trommelworkshop absolvieren, was vor allem in dunklem Zimmer nachts um drei Uhr seine volle Wirkung entfaltet, die darin besteht, daß man sich mit einer Gänsehaut auf den Armen gerne die Decke über den Kopf ziehen würde.


Es ist definitiv schwierig, unbedarften Leuten die Notwendigkeit dieser Platte zu erklären.


Kein Funken Freundlichkeit oder Komik ist darin, nichts was das Herz eines ausgeglichenen Menschen auch nur halbwegs erfreuen würde.
Das Cover und Design des Booklets sind schon dermaßen humorlos, daß alleine das die meisten abschrecken dürfte; die Musik, auch wenn sie phasenweise technisch extrem anspruchsvoll ist, und das Geschrei, das teilweise nach einem mundvoll Glasscherben klingt, tun ihr übriges.
Steve Austin fühlte sich danach scheinbar erleichtert und war wieder bester Dinge; ich hatte mal das Vergnügen, ihn per E-Mail für ein Fanzine zu interviewen, und erhielt freundliche und humorvolle Antworten.
Auch Bekannte von mir, die nach einem Konzert in Köln eine Kneipentour mit ihm machten, beschrieben ihn als äußerst netten und witzigen Typen. Also war dieser Brocken für ihn scheinbar eine absolute Notwendigkeit, um mit sich selbst ins Reine zu kommen. Mittlerweile ist er gar verheirateter Vater... obwohl seine Außenwirkung auf harmlose Zeitgenossen immer noch obskur genug wirken dürfte, wenn man das unten angefügte Photo betrachtet.

Würde ich die Platte heutzutage das erste Mal hören, wüßte ich -wie bereits erwähnt-nicht, ob sie irgendeinen bedeutsamen Stellenwert einnehmen würde. Sie kreuzte jedoch zu einem enorm wichtigen Zeitpunkt mein Leben.

Müßte ich mein Leben nochmals leben, ich würde das Jahr 2002 ersatzlos streichen.

Gäbe es einen Tag mit einem einzigen Sinnbild für dieses Seuchenjahr, dann wäre es der 01. März 2002 samt dem Hauptbahnhof von Celle.
Stockdunkel war es, und klirrend kalt.

Anderthalb Stunden wartete ich auf meinen verspäteten Anschlußzug nach Hamburg, und zwar im Freien, da der Bahnhof bereits geschlossen war.
Außer mir war niemand am Bahnsteig, alles wirkte wie ein menschenleeres Paralleluniversum, und zur perfekten Abrundung begann es zu schneien.
Es gab keine sonderlich erbaulichen Gründe, warum ich mich dort befand, mit meinen zwei Reisetaschen, in welchen ich persönliche Gegenstände mitführte... unter anderem ein paar CD's.
Eine davon war "In The Eyes Of God", die ich in diesem Jahr sehr oft hören sollte.
Dazu fand sich in meinem Gepäck ein Manuskript, das ich im Jahr vorher herausgekramt hatte, und an dem ich weiterarbeiten wollte, denn viel blieb mir ansonsten nicht zu tun.
Ich war damals so beeindruckt von der Platte, daß ich beschloß, dem Text einen ebensolchen misanthropischen Drall zu geben, eine Art "In The Eyes Of God" zum Lesen.

Einen Titel hatte ich schon dafür: "Kreisklassenhölle".




Steve Austin

12. Public Enemy: Fear Of A Black Planet

(erstmals veröffentlicht am 19.04.2010, überarbeitet am 28.10.2011)




Trackliste:


1. Contract On The World Love Jam
2. Brothers Gonna Work It Out
3. 911 Is A Joke
4. Incident At 66.6 FM
5. Welcome To The Terrordome
6. Meet The G That Killed Me
7. Pollywannacraka
8. Anti- Nigger Machine
9. Burn Hollywood Burn
10. Power To The People
11. Who Stole The Soul?
12. Fear Of A Black Planet
13. Revolutionary Generation
14. Can't Do Nuttin' For ya Man
15. Reggie Jax
16. Leave This Off Your Fuckin' Charts
17. B- Side Wins Again
18. War At 33 1/3
19. Final Count Of The Collision Between Us And The Damned
20. Fight The Power


Erschienen:
1990

Erworben: 1991, Musicbox Landau/ Pfalz


Karlsruhe, Kreuzung Karlstraße/Kaiserstraße.


Irgendein beliebiger Sommertag in den 00ern. An der Ampel steht ein protziger schwarzer BMW, am Steuer ein olivfarbener Mensch mit sorgfältig eingeöltem Haupt und klopft auf dem Lenkrad den Takt irgendeiner Ziegenscheiße mit, die brüllend laut aus seinen Boxen bläkt und wummert.
Das könnte irgendwas aus der No- Limit- oder Bad Boy- Fließbandproduktion sein, die alle Nase lang irgendeine Maschine anwerfen, die identisch klingenden Plastikschrott produziert, mit null Aussage und Gehalt außer Bitches, BlingBling und dicken Autos. Und in jenem erblickten Fall paßt die Verpackung zum Inhalt.

Dabei war das alles einmal ganz anders. Früher war alles besser; dieser Satz ist eigentlich verboten, doch früher war TATSÄCHLICH alles besser.
Zumindest damals, als HipHop noch kein Massenphänomen war und man sich mit alternden Rockdeppen und ihrem Gefasel von der Musik, die keine ist ( und singen tun sie auch nicht richtig... und alles klingt gleich. Irgendwas vergessen?) herumschlagen mußte, ohne ihnen partiell recht geben zu müssen.
Was heute im Underground großartig vor sich hinwuchert, fand damals im Mainstream statt, und Kommerzsound waren MC Hammer und Salt'n Pepa, die aber zumindest noch teilweise erträglich waren.
Heute sind nicht mal mehr Mobb Deep erträglich, in Zeiten absoluter stilistischer Gleichmacherei, und das ist traurig genug.


Als ich 1991


mit meinem Realschulabschluß in der Tasche und vielen guten Wünschen in die Lohnsklaverei entlassen wurde, lebte ich gerade im Umbruch.
Noch befand ich mich in meiner kurzen 70er- Rockphase, die meine noch schlimmere vorpubertäre Pop- Phase abgelöst hatte.
Daheim hörte ich Pink Floyd, die alten Genesis, Jethro Tull (keine Kommentare, bitte) und die Doors, auf meinem Abschlußphoto trage ich eine gar grausige Frisur zur Schau und grinse in einem Led- Zeppelin- T-Shirt in die Kamera und allgemein war ich ein recht friedfertiger Zeitgenosse. Dachte ich.

Der erste Wirkungstreffer, der es mir erschwerte, die Spur zu halten, war in Form von Slayers "South Of Heaven" bereits erfolgt.

Ein paar Monate später folgten "Smells Like Teen Spirit", erste Punkkonzerte, vermummtes Mitmarschieren auf Demos und mit Flaschen und Dachlatten auf Neonazis losgehen (oder sich zumindest mal einzubilden, man täte es).
Dazwischen lag aber noch was.

Bis dahin besaß ich genau zwei Rap- LP's, nämlich "Licensed To Ill" von den Beastie Boys (ein Geschenk zu meinem 13. Geburtstag) und Tone- Locs "Loc-ed After Dark".
Das reichte mir bis dahin eigentlich auch.

Erschwerend kam hinzu, daß sich die Realschule in eine Metaller-, eine Rapper-, eine Popper- und eine Faschofraktion irgendwelcher Störkraft und Endstufe hörender Vollpfosten (die aber mit fortschreitendem Alter bis auf eine auch ziemlich gewalttätige Ausnahme alle nichts mehr damit zu tun haben wollten, muß man fairerweise erwähnen) spaltete.
Dazwischen: ich.
Metal? Kam nicht in Frage. Rap? Die Typen machten sich immer über meinen Musikgeschmack lustig. Aber mein Klassenkamerad trug ein recht militant aussehendes Public- Enemy- T- Shirt, das ich irgendwie faszinierend fand.
Auf unserer Abschlußfahrt nach Paris lieh ich es mir auch aus und spazierte damit herum, zum allgemeinen Erstaunen der restlichen Bagage.

Mein erstes Gehalt sollte bald kommen.

Ich machte ein Freiwilliges Soziales Jahr in einem Altersheim im Nachbardorf und durfte- da ich den Beruf ja lernen wollte- arbeiten bis zum Umfallen. Dafür erhielt ich immerhin stolze 300 Mark im Monat; eine Summe, bei der man sich überlegt, ob man dafür nun in Urlaub fliegt oder sich ein neues Auto kauft. Zum Glück ist diese Ausbeutung junger Leute mittlerweile zurückgefahren und das Gehalt erhöht worden.
Ich wollte mir von meinem ersten selbstverdienten Geld CD's kaufen.

Laut meinem schlauen Buch, das ich damals noch führte und in dem ich meine Neuerwerbungen auflistete, waren das "Unreal World" von den Godfathers, weil mich die gleichnamige Single samt Video auf "Super Channel" weggeblasen hatte; "Metallic 2x K.O." von Iggy and the Stooges aus der Ramschkiste, die jahrelang ungehört bei mir verstaubte, und... genau.

"Fear Of A Black Planet" von Public Enemy, einer spontanen Eingebung folgend.
Der Bann war gebrochen, das Tor aufgestoßen, mein endgültiger Weg zum HipHop gepflastert.
Als nächstes folgte laut schlauem Buch gleich "Straight Outta Compton" von N.W.A.


Public Enemy waren damals


schlicht und ergreifend der heiße Scheiß der Stunde.
Normalerweise sollte einen bei dieser Phrasierung der Blitz treffen, aber es war so.
Vor allem weiße Hipster vom Schlage des "TEMPO" (immer noch ein ganz furchtbares Arschlochheft, das wohl der Hauptschuldige an dem abgehangen weitläufigen Metropolengesabbel heutiger Coolnessbarometerträger ist) nahmen die Band gerne als ihre Wichsvorlage, und vornehmlich Bands aus dem linken Kontext trugen als Zeichen ihrer Weltoffenheit ihre T- Shirts mit dem berühmten Logo zur Schau.

Es lag wohl daran, daß die Band damals mit großer medialer Beachtung eine Kontroverse nach der anderen provozierte.
Nicht alle waren dazu angetan, dem gesunden Menschenverstand genüge zu tun.
Rassistische Ausfälle; die S1W (Security Of The First World), die bei Livekonzerten mit Uzi- Attrappen bewaffnet seltsame Gymnastik vollführte; ihr Anführer Professor Griff (ein Schwarzer mit indianischer Mutter), der wegen übelster antisemitischer Äußerungen, die dermaßen debil waren, daß ich sie hier (zumindest an dieser Stelle, sagt edit) nicht wiedergeben mag, auf öffentlichen Druck hin eine zeitlang aus der Band ausgeschlossen und später rehabilitiert wurde; die Ergebenheit dem Black- Muslim- Führer Lewis Farrakhan gegenüber, dessen ebenfalls offen zur Schau gestellter Judenhaß die Grunzdummheit seiner Äußerungen zu Weißen noch übertraf.
Dazu ein Uhr- um- den- Hals- tragender goldbezahnter Kasper namens Flavor Flav, der immer mal wieder an der Crackpfeife und deswegen im Knast landete.

Was war also dran an der Liebe des weißen Mannes zu dieser schwanzlurchigen Band?
Mag es das Eingeständnis eines kollektiven Schuldbewußtseins sein, das zur Folge hatte, daß man Schwarzen nichts vorzuschreiben hatte, bevor man nicht vor der eigenen Tür kehrte; mag es die Lust am Polarisieren gewesen sein, daß man sich mit dem Logo von radikalen Schwarzen schmückte (was ja nicht neu war, denkt man zurück an die MC 5 in den 70ern und ihren Versuch, sich an die Black Panther Party heranzuschleimen, die aber nichts von ihnen wissen wollte)... in meiner damaligen Naivität zog ich diese beiden Möglichkeiten.
In meinen Augen durften Schwarze alles, um zu schockieren; sogar Faschisten wie die Brand Nubian oder den X- Clan, die ich auch heute noch gerne höre, aber mit deutlich mehr innerer Distanz.
Ein Thema, über das man sehr ausführlich diskutieren kann; darum sei es hier nur angerissen.

Man muß Public Enemy zugutehalten, daß sie durchaus den Kontakt zu progressiven weißen Künstlern aufnahmen; Namen wie Jello Biafra und Sinead O'Connor tauchen in den Albencredits auf, später folgte die Kollaboration mit Anthrax, wobei Scott Ian- selbst Jude, sei erwähnt- wohl auch privat mit Chuck D. befreundet war.
Das Album erhielt vom ME/SOUNDS damals ***, soweit ich mich erinnere- mit dem Fazit, daß Chuck D. manchmal "merkwürdig kraftlos klänge, so als könne er seinen eigenen Worten nicht mehr trauen".

Dann frage ich mich aber, wie die Phase nach "Apocalypse 91" samt dem langen Marsch der Band in die völlige Bedeutungslosigkeit zu bewerten ist.
Trotzdem gab sogar der ausgewiesene HipHophasser und Schnarchsack Frank Laufenberg der Platte im Heft ***, er, der sonst alles mit einem Stern abwatschte, was nach Rap klang. Also MUSSTE diese Platte etwas Besonderes sein.

Seltsam war sie auf jeden Fall. Größtenteils bestand sie einfach aus Lärm. Sirenen, wild eingestreute Samples und Chuck D., der gegen mehrfach aufeinandergetürmte Soundschichten anrappt, mit seinem weitgehend unfließenden, aber extrem harten und pointierten Stil, zu dem auch das herrische Timbre seiner Stimme beiträgt.
Die Platte beginnt mit dem kurzen Instrumental "Contract On The World Love Jam", in dem Zitatfetzen aus den Medien zur Band auftauchen (Zitat dazu aus der ME- Rezension: "Die Band schmust im alternativen Lovers- Rap." Und das völlig ironiefrei. Ob da wohl jemand etwas mißverstanden hat?), danach wird es sofort nervig mit den rhythmisch zerhackten James- Brown- Schreien und einem furchtbaren Zahnarztbohrergeräusch, die sich durch "Brothers Gonna Work It Out" ziehen.

Die Texte sind- wie üblich bei Public Enemy- dermaßen codiert, daß man schon eine gewisse Anleitung braucht, um die ganzen Zitate und Anspielungen zu verstehen.
Darum hat es auch einige Zeit gedauert, bis ich verstand, warum die Passage aus dem hektischen, besten Track der Platte namens "Welcome To The Terrordome", in welchem Chuck D. die Vorwürfe der Medien gegen die Band in Sachen Professor Griff kommentiert, sofort eine großangelegte Antisemitismusdebatte auslöste:


Crucifixion ain't no fiction
So called chosen frozen
Apology made to who ever pleases
Still they got me like Jesus


Vielleicht, weil diese Aussage antisemitisch IST? Oder ist es vermessen, wenn der böse Jud (von den "So-called chosen") sich aufgrund von Äußerungen wie "Die Juden sind verantwortlich für alles Böse in der Welt, sie finanzieren AIDS- Experimente mit Schwarzen in Südafrika" aufregt und eine Entschuldigung der Band verlangt?
Nach "Welcome To The Terrordome" wartete jedenfalls sogar einmal die rechtsextreme Jewish Defense League nach einem Konzert der Band am Ausgang. Mit Baseballschlägern.

Trotzdem: der Track ist großartig. Und Antisemitismus gehört nun wahrlich zu den Dingen, die mir bisher im Leben nicht allzuhäufig vorgeworfen wurden.
Doch linkes Selbstverständnis wird gleich noch einmal auf die Probe gestellt, und zwar im nur 17- sekündigen "Meet The G That Killed Me" (ein "G" ist die Kurzform von "Gangsta", das zum besseren Verständnis), dem lustigen Track über AIDS:


Man to man
I don't know if they can
From what I know
The parts don't fit
(Ahh shit)
How he's sharin' a needle
With a drug addict
He don't believe he has it
(Either)
But now he does, he doesn't know cause he
Goes straight to a ho
Tell you what who was next on the but
Wild thinin' on a germ
Runnin' wild
Yo stop
But the bag popped


Also hätten wir Homophobie im ersten Teil hier auch abgehakt.

Danach "Pollywanacraka", an dem man wunderbar verdeutlichen kann, wie die Band ihre Texte verschlüsselt:

"Polly wants a cracker?" ist in den USA ein Spruch, der Papageien gerne vorgeplappert wird; "Cracker" ist aber ebenfalls eine abwertende Bezeichnung von Schwarzen für Weiße, vor allem aus den Südstaaten; demzufolge geht es in dem merkwürdig surrealen Track mit seinem geraunten Sprechgesang um eine Sista namens Polly, die sich unbedingt einen reichen Weißen angeln will.

"Burn Hollywood Burn" ist dagegen ein herrlich punchender Track, in dem zusammen mit Ice Cube und Big Daddy Kane die Rolle der Schwarzen in frühen Filmen beleuchtet und gleichzeitig auf den damaligen Oscarpreisträger "Driving Miss Daisy" eingedroschen wird als Beweis, daß das alte Hollywood mit seinem Rassismus noch nicht tot sei.
Da spielt Morgan Freeman eine gutdotierte Rolle als Chauffeur und zieht sich damit den Haß der gesamten Black Community zu; das Leben ist doch eines der Schönsten.

Es wäre müßig, hier jeden Track zu besprechen; herausgehoben wären noch der eher mäßige Titeltrack mit seiner gesampelten Fortpflanzungslehre, die da besagt, daß bei Kreuzungen zwischen schwarz und weiß generell ein schwarzes Baby herauskommt und wir (bzw. Gegner der Rassenmischung) uns deswegen eben vor einem schwarzen Planeten ängstigen.

In "B- Side Wins Again" heißt es gar

"And the sucker on the right gets cynical
Cause the record's to the left and political"


Nach Prüfung aller Indizien halte ich das "to the left" zwar für ein Gerücht, aber als Beruhigungsdragée für die weiße Intelligentia funktionierte das scheinbar.
Das letzte Drittel der Platte ist übrigens das stärkste.

Eben genannter Track mit seinen leicht versetzt gedoppelten Raps, der hektische Terrorangriff "War On 33 1/3" und natürlich die Single "Fight The Power", die in Spike Lees "Do The Right Thing" zu Ehren kommt und eine von mir gerne zitierte Textzeile beheimatet:

"Elvis was a hero to most
But he never ain't shit to me
Because straight up racist that sucker was simple and plain
Motherfuck him and John Wayne"


Provokation ohne Ende,

deswegen durchweht die Platte ein Geist von Punkrock. Kontrovers, radikal und böse, nervtötend und gewagt.
Mit Sicherheit kein Album, das man Einsteigern empfehlen würde, dafür ist es zu hektisch und zerfasert... auch wenn es bei mir funktioniert hat.
Danach folgte das um Längen bessere "Apocalypse 91" und mit dem Video zu "By The Time I Get To Arizona" noch einmal der letzte große Aufreger, weil darin ein Doppelgänger des Gouverneurs von Arizona, das sich zusammen mit New Hampshire als einziger Bundesstaat weigerte, einen offiziellen Gedenktag für Martin Luther King einzuführen, von der S1W per Autobombe erledigt wird (Ulrich Wickert berichtete darüber in den Tagesthemen und sprach die legendären Worte, daß PE zwar radikal seien, aber nichtsdestotrotz gute Musik machten).

Danach wurde es finster. Grausige Platten (hat es jemals jemand geschafft, "There's A Poison Goin' On" gutzufinden?), gute Platten, die aber niemanden mehr interessierten, ein mittlerweile völlig entrückter Flavor Flav, der als Depp vom Dienst in einer Schwachsinns- Sendereihe auf MTV mit einem goldenen Wikingerhelm auf dem Kopf an Brigitte Nielsen herumschrauben darf und ein Chuck D., der sein angedrohtes "Rock"- Projekt tatsächlich "Confrontation Camp" nennen wollte und ansonsten immer mehr in Vergessenheit gerät.


Es gibt sehr viele HipHop- Platten,


die eigentlich hier hereingehören: Alben von A Tribe Called Quest, Gang Starr, Ice Cube, Cypress Hill (das Debüt), N.W.A., BDP, Wu- Tang Clan, MC Serch (Ja. Immer noch.), und, und und... aber über keines kann ich sonderlich viel schreiben.
Doch "Fear Of A Black Planet" gibt massig Material her.

Das beste PE- Album ist "Apocalypse 91", eine Platte ohne Ausfall, was man von "Fear Of A Black Planet" nicht unbedingt behaupten kann; "Leave This Off Your Fuckin' Charts" braucht beispielsweise kein Schwein.
Aber es mag nicht die beste HipHop- Platte sein, die ich besitze; doch mit Sicherheit ist es die wichtigste, die mein Leben nachhaltig beeinflußt hat.
Und dafür liebe ich sie.

11. The Housemartins: The People Who Grinned Themselves To Death

(erstmals veröffentlicht am 15.04.2010, überarbeitet am 28.10.2011)




Trackliste:


1. The People Who Grinned Themselves To Death
2. I Can't Put My Finger On It
3. The Light Is Always Green (For Young Male Pop Star)
4. The World's On Fire
5. Pirate Aggro
6. We're Not Going Back
7. Me And The Farmer
8. Five Get Over Excited
9. Johannesburg
10. Bow Down
11. You Better Be Doubtful
12. Build


Besetzung:


P.D. Heaton (voc, gt)
Norman Cook (bs)
Stan Cullimore (gt)
Dave Hemingway (dr)


Erschienen: 17.11. 1987

Erworben: 1988, Musicbox Landau/Pfalz

Mal wieder ein Album gefällig, das man nie mit mir assoziieren würde?

Meine Liebe zu den Housemartins dauert schon so lange, daß manch andere Beziehung Mühe hätte, Schritt zu halten.
Sie begann mit dieser Platte, genauer gesagt: mit diesem Cover, das mich schon seit damals fasziniert.
Dieses schlichte Schwarzweißphoto, die 60er- Jahre- Ästhetik, der rostbraune Streifen, der den Titel in sich birgt: wie einfach es manchmal sein kann, den Blick von jemandem zu bannen.

Eigentlich begann unsere Beziehung im Krankenhaus. Mit 13 durfte ich 1986 nach einer meiner drei Operationen am linken Ohr mal wieder drei Wochen in der Sommerfrische im Vinzentiuskrankenhaus in Karlsruhe verbringen.
Neben lesen tat ich den ganzen Tag nichts anderes, als SWF 3 auf dem Radio, das im Nachttisch eingebaut war, zu hören, wenn ich nicht gerade meinen Walkman in Betrieb hatte, an den man zum Glück kleine, plärrige Boxen anschließen konnte... Kopfhörer kommen mit dickem Verband um den Schädel nicht sonderlich gut.
Eine folgenreiche Erkenntnis aus meinem dauerhaften Konsum war, daß es viel tolle Musik gab, die ich besitzen wollte.
Also würde ich mir künftig von meinen monatlichen 20 Mark Taschengeld Schallplatten kaufen.

Dazu lief auf Heavy Rotation neben "Higher Love" von Steve Winwood ständig ein weiteres Lied, das ich ewig mit diesem Krankenhausaufenthalt verbinden werde... aber beide in einem durchaus positiven Sinn.
Denn so, wie ich für Erstgenanntes nach wie vor einen "Soft Spot" habe, weil ich es damals einfach mochte, war mir auch das zweite Lied immer ein Trost, wenn ich es hören durfte, ein kurzes Labsal, ein Moment der Entspannung, in dem ich am liebsten in die Nachttischschublade gekrochen wäre, um ihm nahezusein.
Ich hatte ein paar selbstgemachte Mixtapes mit Liedern dabei, die ich aus der SWF 3- Hitline mit Elmar Hörig im Radio mitgeschnitten hatte. Darauf war auch "Caravan Of Love" von den Housemartins.
Vorspulen.
"Are you readyyy..."
Vorspulen.
"Are you ready for the.."
Vorspulen. Knopfdruck. Knack. Bzzzk.


Das Nächste,


was ich von den Housemartins zu hören bekam, war "Sheep" auf Formel Eins mit (damals) Stefanie Tücking.
Das gefiel mir, aber ich hatte die Sendung auf Video aufgenommen, das reichte mir. Die Platte wollte ich mir nicht kaufen, obwohl "Caravan Of Love" nicht drauf war... aber ich traute dem Ganzen nicht.

Außerdem hatte ich gerade David Bowie (ja, den 80er- Gruselbowie), Peter Gabriel, U2 und Queen entdeckt, und das war schon mehr, als es mein Budget zuließ.
Zu der Zeit befaßte ich mich nur noch mit Musik, aus diversen Gründen; im Gymnasium war ich bei den Mitschülern nicht sonderlich beliebt, um es mal vorsichtig auszudrücken, aber nicht, weil ich solch ein wilder Kerl war. Es war um einiges spaßfreier.
Deswegen wurde ich immer pickeliger, zahnspangiger und kauziger, bis mich irgendwann außer Musik und Fußball gar nichts mehr interessierte.
Genau in diese erbauliche Lebensphase fiel "Me And The Farmer".
Das dazugehörige Album wurde auch prompt Platte des Monats im ME/SOUNDS, und diesmal wollte ich sie haben. Sofort.

Mein Lied aus dem Krankenhaus hatte ich nie vergessen. Es kam nicht mehr im Radio, was mich sehr traurig machte, hätte ich doch gerne mal erfahren, wer es sang.
Tatsächlich habe ich es durch die Medien erst Mitte der Neunziger erfahren, als das Video mal in irgendeinem Musikkanal in den "Classics From The 80's" lief.
Aber als ich mir nach "The People..." begeistert auch noch "London 0 Hull 4" kaufte, wußte ich nicht, welche Zufallsbegegnung mir bevorstand.
Also kann sich vielleicht jemand meine fassungslose Freude vorstellen, als sich gleich der Opener "Happy Hour" als MEIN Lied entpuppte. Und es ist bis heute MEIN Lied geblieben.

Warum nun

der Zweitling um Haaresbreite vorne liegt? Er gefällt mir ganz einfach den berühmten Tacken besser, auch wenn ich "London 0 Hull 4" ebenso unbedenklich empfehlen kann.

Dennoch: zur Zeit des Erscheinens wurde über die Band schon kübelweise Häme ausgegossen.
Ihre merkwürdige Politattitüde, die sich scheinbar in christlich-humanistisch unterfüttertem Radikalmarxismus (wie das zusammenpaßt, muß mir auch mal jemand erklären. Halt. Doch nicht.) manifestierte ("Take Jesus. Take Marx. Take Hope. Don't try gate- crashing a party full of bankers. Burn the house down." [So stand es auf der Innenhülle von London 0 Hull 4]) stieß vor allem den Medien sauer auf.

So wie Martin Brem versuchte, in den News der ME/SOUNDS die Band als Verbreiter eines lächerlichen Politimages-vulgo: als Heuchler- vorzuführen, brachte die BRAVO (die ich zugegebenermaßen eine zeitlang regelmäßig las) einen hochinvestigativen Artikel, mit Enthüllungen wie der, daß Stan Cullimore eigentlich Ian hieß, aber den Namen zu wenig Arbeiterklasse und deswegen nicht imagetauglich fand. Allgemein war das Thema die gutbürgerliche Herkunft der vier, die sich eine kleidsame Arbeitersohnattitüde zugelegt hatten. Böse, böse.

Machte das


ihre Texte aber schlechter?
Den beißenden Spott des Titelstücks? Das kryptische "I Can't Put My Finger On It"? Das geisteskranke "The World's On Fire"?
Wohl kaum. Allein die Lektüre des Textblattes ist heute noch ein Genuß. Ständig entdeckt man Neues, Textpassagen für die Ewigkeit ziehen am Auge vorbei:


"Today I have been moulding plasticine
And I made a little man who looked just like me
His limbs were so weak and he couldn’t move his mouth to speak
And I could bend him into any shape I wanted him to be"

(Bow Down)


Sarkasmus trieft aus vielen Ecken, vor allem, wenn es um Sozialkritik geht, zum Beispiel


"The people who grinned themselves to death
Smiled so much they failed to take a breath
And even when their kids were starving
They all thought the queen was charming"


oder, auch sehr schön:


"We dig our models with the brains the size of models
And cars that we can trust with our wives
And we dig converstaions with girls from every nation
But not the ones that whisper or tell lies

Wherever there's a will there's a motorway
Wherever there is greed there is speed
And they've always got to be there for yesterday
Welcome to the new Scalextric's breed"

(The Light Is Always Green [For Young Male Pop Star])


dessen Refrainzeile mein Verstand in völliger Eigendynamik als Folge des beliebten "Wir ersetzen Wörter in Songs durch irgendeinen Schwachsinn"- Spiels immer zu "Wherever there's a will there's a Schnitzelweck" vervollständigt... eine traumatische Spätfolge.

Natürlich gibt es auch eine Handvoll Pathos, man kann sich über die Akustikballade "Johannesburg" (über das damalige Apartheitsregime in Südafrika) in all seiner U2- Seligkeit genauso echauffieren, wie einem das kirmeshafte mundharmonikagetriebene Instrumental "Pirate Aggro" auf den Zeiger gehen kann... aber das sind Marginalien.


Letzten Endes


ist diese Platte Popmusik auf einem danach selten wieder erreichten Level. Gitarrengetriebene Songs wie der Opener oder "Me And The Farmer", wunderschöne Balladen mit bissigem Text wie "The Light...", und allgemein Lieder, die musikalisch die pure Daseinsfreude verströmen (wie eben das bläser- und pianoinfizierte "Bow Down", das als eines der wenigen Lieder, die ich kenne, ungestraft einen Kinderchor zur Unterstützung mitführen darf), ohne gleich in unkritischen Optimismus zu verfallen.

Grundvoraussetzung ist allerdings, daß man mit Heatons Stimme klarkommt, die häufig jungenhafte Höhen erreicht, die - wie im Falle des Schreis in "The World's On Fire"- gerne mal schmerzhaft am Trommelfell kratzen.
Ansonsten hat man eine teilweise großartige Melange aus Morrissey ("Suedehead" mal als Beispiel genommen, bevor jetzt Scharen von Morrisseyfans über mich herfallen) - und Style- Council (sagen wir hier mal "Shout To The Top" oder "Walls Come Tumbling Down")- Momenten, gehüllt in ein der Band unverwechselbar eigenes Soundgewand.


"Five Get Over Excited"


wartet mit einer netten Anekdote auf: im zugehörigen Video sieht man, wie der erste Drummer der Band, Hugh "Segelohr" Whitaker, dem später ein schauriges Schicksal beschieden war (man vernahm Jahre danach die Nachricht, er sei schizophren geworden, hätte seine Familie infolgedessen mit einer Axt angegriffen und sein Haus in Brand gesteckt... leider kein Witz) von seinem Nachfolger in einen Kartoffelsack gesteckt wird, und vergeblich versucht, im Sack steckend seinen Bandkollegen hinterherzueilen, unter anderem auf einem Go- Kart. Charmanter wurde nie ein Bandausstieg begründet.

Der Text in diesem recht flotten Song mit seinen "Fun fun fun"- Chören ist natürlich mal wieder einzigartig in seinem schwarzen Humor, auch wenn ich ihn nicht ganz kapiere, da sich mir der Kausalzusammenhang mit den Zeilen in den Klammern nicht erschließen mag:

Fun, fun, fun (Jeremy)
Me, me, me (Fifi)
Take, take, take (Jeremy)
Fun, fun, fun
James dean posters on their wall
(Five killed in a car-crash)
What a sad little end to it all
(Five killed in a car-crash)
Last seen having lots of fun
(Five dumped in a river)
Barefoot and on the run
(Five dumped in a river)

I am mad from Scandinavia
I want a guy in the London area
He must be crazy and Sagittarius
'Cause I'm Leo and I'm hilarious

Fun, fun, fun (Jeremy)
Me, me, me (Fifi)
Take, take, take (Jeremy)
Fun, fun, fun

Last seen drinking daddy's own beer
(Five poisoned over dinner)
Singing ABBA's "Mamma Mia"
(Five poisoned over dinner)
Drop dead watching thunderbirds fly
(Five get over excited)
Poster on their wall says "why? "
(Five get over excited)

I am guy from Camden Town
My hair is curly but I gel it down
My clothes are black but my bread is brown
I'm really into early Motown

Fun, fun, fun (Jeremy)
Me, me, me (Fifi)
Take, take, take (Jeremy)
Fun, fun, fun

Feigning concern, a conservative pastime
Makes you feel doubtful right from the start
The expression she pulls is exactly like last time
You've got to conclude she just hasn't a heart


Entstehungsgeschichte und Ende diverser bürgerlicher Familien in der Thatcherära?

Das Ende der Housemartins war da auch schon nahe, kurz und (für ausgewiesene Fans wie mich) schmerzhaft. Eine "Best Of"- Doppel- LP samt lesenswerter Linernotes und viel unveröffentlichtem Material namens "Now That's What I Call Quite Good"...
die immer langweiliger und bräsiger werdende Nachfolgeband The Beautiful South und ein ehemaliger Basser, der heute als Fat Boy Slim unzählige schwer erträgliche Bauernbeats zusammendübelt und für seine Ex- Band und die damalige Zeit nur noch Verachtung übrighat.

Ihr aber, die Ihr das lest und reinen Herzens seid: in tausenden Ramschkisten im ganzen Land ist jedes der Alben für einen lächerlichen Preis zu haben. Solltet ihr also mal eine Hosentasche voll Kleingeld übrig und ansonsten nichts zu tun haben, dann besorgt euch diese wunderbare Platte... Ihr werdet es nicht bereuen, schon gar nicht, wenn ihr auch nur einen Funken meiner Begeisterung dafür aufbringen könnt.

Mittwoch, 26. Oktober 2011

Die Barke mit der gläsernen Fracht

Man geht in ein Krankenhaus mit der Aussicht auf einen Routineeingriff am Ohr.

Veranschlagte Dauer: ca. 2 Stunden, mit einem anschließenden Krankenhausaufenthalt von 3-5 Tagen. Das klingt machbar.

Nur kam am Ende dann eine 11stündige Operation mit einer komplett anderen Diagnose dabei heraus, während der bereits die Barke mit der gläsernen Fracht angedockt hatte und auf mein Zusteigen wartete... wie ich erfahre, als ich aus der Narkose erwache und einem die zuständige Professorin glaubhaft versichert, daß es ein Wunder sei, daß ich noch lebe.
Nun bin ich gerade bei meinen Eltern, also quasi in der Privat- Reha... noch sehr eingeschränkt in meinen Bewegungen und meiner Handlungsfähigkeit, aber Schritt für Schritt auf dem Weg zurück in das Leben, das für mich vor der Operation normal war.

Nein, ich möchte hier nicht meine ganze Krankengeschichte breittreten, ich habe die Menschen, welche es etwas angeht, lang und breit darüber informiert.
Aber soviel, daß das "siffende Ohr" nicht das Hauptsymptom war, sondern nur eine Folge von einem gutartigen Tumor, der schon seit geraumer Zeit in meinem Kopf zur Tennisballgröße herangewuchert war, kann ich schon noch erwähnen.

Immerhin lag ich mit der "Lobotomie" in meinem Vor- OP- Post damit richtiger, als ich es mir zum Zeitpunkt des Abfassens vorgestellt hatte. Wie nennt man sowas?
"Sich selbst erfüllende Prophezeihung"?

Mittwoch, 12. Oktober 2011

Pause.

Hat jemand bisher tatsächlich diesen ganzen Riemen bis hierher gelesen?

Dann hat er sich eine Verschaufpause verdient. Wie angekündigt, geht es morgen endlich unters Messer, dann folgen die restlichen 5 Platten. Wir haben noch ein ordentliches Stück weg vor uns.

Mehr von mir, wenn ich zurück bin (hoffentlich unlobotomiert).

10. John Lee Hooker: Never Get Out Of These Blues Alive

(erstmals veröffentlicht am 09.01.2010, überarbeitet am 12.10.11)






Erschienen: 1972

Erworben:
ca. 1991, Musicbox Landau/Pfalz

Trackliste:

1. Bumblebee, Bumblebee
2. Hit The Road
3. Country Boy
4. Boogie With The Hook
5. T.B. Sheets
6. Letter To My Baby
7. Never Get Out Of These Blues Alive


Houston, wir haben ein Problem.


Wir brauchen in dieser Auflistung dringend noch ein Bluesalbum. Eines, das abwechslungsreich genug ist, daß man nicht ständig denselben Stiefel darüber schreibt. Eines, das puristisch ist, wie es der Verfasser dieser Zeilen bevorzugt, aber nicht so puristisch, daß es für geneigte Leser komplett unzugänglich wäre.

Nächstes Problem: Howlin' Wolf, Son House, John Lee Hooker oder Muddy Waters?
Den Streit zwischen Hooker und Waters, der auf einer anscheinend herzlichen gegenseitigen Abneigung der beiden fußte, ich kenne ihn bislang vom Hörensagen und habe als Beleg nur ein dementsprechendes Zitat aus einem Interview mit Hooker kurz vor seinem Tod 2001 gefunden.
Bezüglich der Wahl dürfte sich der großartige Muddy also im Grabe herumdrehen, aber es muß halt einmal sein.

Begonnen, Blues zu hören, habe ich nunmal mit John Lee Hooker.

1989 sah ich auf dem bereits erwähnten Super Channel den Clip zu "The Healer" mit, ähm, Carlos Santana, dessen Gitarrenklang mir heute dermaßen physische Schmerzen zufügt, daß ich beim besten Willen nichts mehr goutieren kann, wo der bereits seine Finger dranhatte. Davor ein damals bereits uralt aussehender Mann im Anzug, mit Hut und schwarzer Sonnenbrille.
Verdammt, wie cool war das denn?

Also legte ich mir im zarten Alter von 17 bereits erste Bluesalben zu, allerdings alle damals noch neueren Datums. Vieles davon war aus heutiger Perspektive gräßlicher Langweilerquatsch, allen voran Gary Moores Aufzugsmusik, die außer für Teilnehmer an Gitarrenworkshops, die auf ehrliche, handgemachte Musik stehen und dieses Beamtengegniedel für Blues halten, beim besten Willen nicht zu ertragen ist.
Irgendwann kaufte ich mir eine Compilation von Hookers Aufnahmen aus den 40er und 50er Jahren namens "Boogie Chillen", die das dänische Label APS veröffentlicht hatte (und die noch heute über eines meiner allerliebsten Covers verfügt, ein Farbphoto von John Lee Hooker vor irgendeinem Laden in Chicago[glaube ich], scheinbar aus den 50ern... beim Betrachten hat man das Gefühl, man könne einfach in das Cover hineinsteigen und wäre dann auf jener Straße) und ödete mich damit gewaltig. Gekauft hatte ich sie mir nach dem Ansehen von "Blues Brothers" wegen dem grandiosen Titeltrack, aber der Rest erschien mir furchtbar zäh.

Der Kontrast zwischen dem Hochglanz von "The Healer" und "Mr. Lucky" zu diesen sperrigen Aufnahmen mit ihrer blechernen Produktion schien einfach zu groß und extrem. Daß der gesamte Takt von Hooker oft auf einem am Boden liegenden Holzbrett mitgestampft wurde, war zwar ein interessantes Detail, rettete für mich damals aber nicht viel.

"Never Get Out Of These Blues Alive" war dann eine meiner letzten Anschaffungen in meiner Prä- Punk- Phase.
Daß ich anschließend stapelweise Platten aus meiner Sammlung entfernt habe, ohne meine Bluesscheiben anzutasten (auch wenn ich sie jahrelang nicht mehr hörte), spricht wohl Bände.
Als dann Jahre später die Oblivians, Lo- Lite, Mule, Billy Childish und Jon Spencer in mein Leben traten, die allesamt im alten Blues wurzeln und ihn auf ihre Weise- wenn auch teils bis zur Unkenntlichkeit- weiterentwickelten, und ich dann in Köln im Vorprogramm von Jon Spencer das Glück hatte, R.L. Burnside (R.I.P.) sehen zu dürfen, kehrte die Liebe zurück... nur, daß ich diesmal eben dem Album "Boogie Chillen" verfiel und mich Platten neueren Datums nicht mehr interessierten, außer sie erschienen auf Fat Possum.

Auch heute noch sind es vornehmlich Aufnahmen ab den 70ern abwärts, die bei mir großen Stellenwert haben.
Bei weiterführender Beschäftigung mit allerlei Geschichten trat die faszinierende Tatsache zutage, daß alte Blueser in der Regel ein Haufen räudiger Bastarde waren, oftmals verurteilte Mörder und Totschläger (Son House, R.L. Burnside, Leadbelly), Säufer, Zocker und Hurenböcke (wie die meisten früheren Jazzer übrigens auch, außer daß jene dazu noch fast durch die Bank durch heroinsüchtig waren), was von den heutigen Nachlaßverwaltern, für die Blues nur allzuhäufig eine Korsettstange für ausgedehnt virtuoses Gitarrengewichse ist, gerne mal unterschlagen wird (in nicht wenigen Fällen aus schierer Unkenntnis).
Nein, Blues ist keine Langweilermusik für alternde Bankangestellte. Was da aus dem Mississippidelta kam, war räudig, hatte Eier, war mehr Rock'n Roll als vieles, was sich heute dafür hält.
Da zählen für mich auch keine technischen und textlichen Finessen, das waren Leute, die zum Teil noch hart auf den Plantagen schuften mußten und abends auf selbstgebauten Instrumenten in irgendwelchen Spelunken für eine Flasche Whisky und eine warme Mahlzeit spielten.
Dieser Teil der Bluesgeschichte ist mittlerweile im wahrsten Sinne des Wortes gestorben, und das, was nun kommt, tangiert mich nurmehr peripher.
Danke, Jungs, ihr wart großartig, und ich hab euch lieb. Ganz ganz doll.

"Never Get Out Of These Blues Alive" befindet sich da ziemlich genau mittendrin. Zu alt, um glattgebügelt zu sein, aber trotzdem mit Gastmusikern wie Canned Heat und Van Morrison ausgestattet, die Hooker noch Hooker sein lassen, ohne ihn in ein modernes Korsett zu zwängen.
"Bumblebee, Bumblebee" ist ein relativ verhaltener Einstieg mit schlichtem Text um eine Frau, die davongelaufen ist, und ihren Stachel zurückgelassen hat, der immer noch schmerzt.
Ein sehr langsames Stück mit Gitarrenintro und einsetzender Orgel, das gegen Ende von einem merkwürdig zwischen Tiefton und singender Säge changierenden, aber trotzdem schneidenden Gitarrensound förmlich zerlegt wird und den Hörer aus seiner Lethargie erweckt.

Das ist auch gut so, den "Hit The Road" ist ein eingefadeter (wie fast jedes Stück der Platte... da hatte mal jemand eine Wahnsinnsidee. Aber es funktioniert trotzdem, weil die anschwellende Lautstärke eine gewisse Spannung aufbaut) flotter Boogie, dem ich die Wiederentdeckung dieser Platte verdanke.
Als ich 2002 mit musikalisch eher mainstreamlastigen Freunden nach Portugal fuhr, war die Suche nach musikalischem Konsens nicht gerade die einfachste. Auf Hooker konnten wir uns glücklicherweise einigen, und es war äußerst passend, zu "Hit The Road" und immer wieder "Hit The Road" über sonnenüberflutete Autobahnen zu heizen.
Ja, Autobahnen, richtig gelesen. Aufgrund meiner damals noch extremen Flugangst fuhren wir in einem kollektiven Anfall von Wahnsinn 33 Stunden am Stück durch, in zwei- bis fünfstündigem Fahrerwechsel.
Seitdem liebe ich diese Platte, auch wenn die Fahrt mörderisch war.

Nachts im Studio, geschätzt 1 Uhr 34.
Alle sind besoffen, die Aschenbecher quellen über, es riecht nach Schweiß, Bier und muffigen Socken, und es wird noch gejammt, bis der Arzt kommt.
"We're sitting here, cookin'. Everybody's... everybody's groovin'."
Aber hallo, "Country Boy". Das Landei, das in die große Stadt kommt und jemanden zum Liebhaben sucht, denn jeder nennt es Greenhorn, und es fühlt sich so allein.
Das 12- Bar- Schema trägt uns durch 7 Minuten, Howard Mitchell wichst scheinbar zugekokst auf seiner Klampfe herum, begleitet von Hookers existentieller Frage "Can you feel it?" (JAAAAH!!!) und außerdem: "Nobody loves me but my dear old mother, you know that makes me feel bad. Although I love my mother, I need others too to love me."
Wenn das mal kein Grund zum Saufen ist, weiß ich ansonsten auch keinen.

Da schummert und wummert schon wieder die Orgel, und los geht es zum "Boogie With The Hook" mit etwas nerviger Country- Fiddle, bevor es surreal wird:

"T.B. Sheets" ist wahrscheinlich das Bizarrste, was ein klassischer Blueser je auf Platte gebannt hat.
Eine wahnsinnige Geige zittert sich zu Orgelbegleitung und Schlagzeug durch einen Song, der eine apokalyptische Vision nach einem scheinbar bakteriologisch geführten Krieg darstellt.
Es gibt Transporter voller Leichen, während Hooker als Erzähler auf dem Totenbett dem Ende entgegendämmert. Sehr seltsam, und schaurig- schön.

Danach "Letter To My Baby". Ich maße mir mal an, die Textzeile "I wrote my baby a letter", die von jemandem gesungen wird, der bekanntermaßen sein Leben lang Analphabet war, eher unfreiwillig komisch zu finden (interessant daneben auch die Feststellung, daß Hooker noch dazu Stotterer war, der das Singen zur Therapie seines Sprachfehlers nutzte. Funktioniert erstaunlich oft: ein guter Freund von mir, der ebenfalls stottert, machte mal Deutsch- HipHop und rappt auch heute noch wie aus einem Guß... aber sobald er normal spricht, hakt es).

Ansonsten bleiben wir beim Schema "Langsamer Song/Boogie/langsamer Song", demzufolge auch der Closer der Platte mit Van Morrison ein Schleicher von niemals langweiligen 10 Minuten ist, in dem simple, aber umso treffendere Wahrheiten verkündet werden:
man hat den Blues, kann nichts essen aber raucht wie ein Schlot, schüttet schwarzen Kaffee in sich hinein, als gäbe es kein Morgen und fragt sich, wie zur Hölle man aus dieser Sache wieder lebend herauskommen soll, während Leute einem auf die Schulter klopfen und "Das wird schon wieder" sagen.
Der Text wirkt frei improvisiert, jedes Saiten- und Tasteninstrument steht mal im Vordergrund und wird wieder zurückgenommen, also gehe ich davon aus, daß dies ebenfalls das Ergebnis einer Jamsession ist.

John Lee Hooker hat im Laufe seiner Karriere hunderte von Songs aufgenommen, darunter Dutzende Male immer dieselben Stücke.
Davon mag man halten, was man will.
Vieles wurde auf obskuren Labels veröffentlicht, um möglichst viel Geld herauszuschinden, da er jahrzehntelang von der Hand in den Mund lebte... um Vertragsstreitigkeiten aus dem Weg zu gehen, erschienen sie zum Teil unter Pseudonymen wie "Johnny Lee" und "John Lee Booker", wobei letzteres ja eine geradezu perfekte Tarnung ist.
Ich werde wahrscheinlich niemals alle Songs hören, auch wenn ich mir weiterhin Platten von ihm kaufen werde, bis mein Plattenfach aus allen Nähten platzt.
Darum: für einige wird Blues mit Sicherheit immer noch die langweiligste Musik der Welt bleiben.
Warum er dagegen das für mich nicht ist, sondern eine Musikrichtung, die "cooler" und interessanter ist als ihr Ruf, konnte ich anhand dieser Rezension einer Platte, die stellvertretend für viele andere stehen soll (nochmal: Howlin' Wolf. Muddy Waters. Lightnin' Hopkins. Son House. Beide Sonny Boy Williamson, der ermordete erste und sein Nachfolger, der sein Pseudonym übernahm. Robert Johnson. Big Joe Turner. Sleepy John Estes. Lowell Fulsom. Elmore James. Leadbelly. Und, und und.), hoffentlich vermitteln.