Mittwoch, 6. Oktober 2010

Aus dem Leben eines Soziopathen

An manchen Tagen fragt man sich als sich "normal" dünkender Internetuser, was man denn so alles verkehrt macht im Leben.

Zumeist fragt man sich das, wenn irgendein soziologisch oder psychologisch geschulter Schlaumeier in der FAZ oder im SPIEGEL meint, mal wieder irgendwelche Fallstudien zum Internetuser als solchem verfassen zu müssen oder der übliche Psychopath via Chat irgendwelche Frauen zu Treffen überredet hat, um sie zu strangulieren.
In letzterem Fall schaltet sich meist in der medialen Aufarbeitung der Mensch aus Beispiel 1 zu, so daß vor denjenigen der (glaube ich gelesen zu haben) 16 Millionen Deutschen, die nicht online sind, erstaunliche Details ausgebreitet werden:
es gibt im Internet Seiten- so erfährt man- in denen sich Leute mit Tarnnamen ansprechen und sich verabreden, oder solche, auf denen Leute Photos einstellen, auf denen sie schwerst intoxikiert auf Parties umherstürzen oder irgendwelchen Menschen die Zunge in den Hals oder sonstige Körperöffnungen stecken (was natürlich schnüffelwütige Personalchefs auf den Plan ruft).
In ersterem Fall sind das laut diesen Berichten zumeist erbarmungswürdige Existenzen, deren Kommunikationsverläufe unter der zumeist akribisch-genüßlichen Übernahme aller Rechtschreibfehler abgedruckt werden, in zweitem Fall generell Menschen, die im Falle steter virtueller Überdosierung Maß, Ziel sowie sämtliche Hemmschwellen verloren haben.

Daraufhin melden sich wie bestellt irgendwelche Leute (zumeist emeritierte Professoren, Proust lesende Zahnärzte oder sonstige Schöngeister sowie Anhänger des Gedankens, ein Brief wäre nur ein Brief, wenn er von Hand verfaßt wird)
eben leserbriefschreibenderweise zu Wort und tun ihre Meinung kund.

Herausfiltern kann man dann zumeist, daß

a) Internet modernes Teufelszeug ist, das uns zu willenlosen Sklaven des modernen Zeitalters macht
b) ein erschreckender Tummelplatz für Psychopathen ist
c) der User als solcher ein sozial isoliertes Individuum sei, das nicht mehr in der Lage wäre, am alltäglichen Leben teilzunehmen

Gelegentlich erscheint dann- um die Lücke zwischen zwei chatinduzierten Sexualmorden zu schließen- ein Mehrseiter, der eine Art Metaphysik kreiert, eine Untersuchung, in der das Internet beispielsweise als neue Religion dargestellt bzw. mit Gott verglichen wird, in dem die User diesmal als eine Art Supernerds erscheinen, die Datenberge aufschütten, über deren Nutzen für die Nachwelt spekuliert wird.

Und so sitzt man und sinniert.

Was macht man als User, der nicht chattet, sondern nur in Foren unterwegs ist, in denen zumeist richtige Menschen hinter den Nicknames stecken, mit denen man nicht nur privat kommunizieren, sondern sie auch kennenlernen kann, ohne vergewaltigt und erdrosselt zu werden; der versucht, das Internet sinnvoll zum beruflichen Fortkommen einzusetzen; der mit seinem Privatleben nicht überall hausieren geht; der soziale Netzwerke nutzt, weil er sich freut, Leute wiederzufinden, die er schon längst verloren glaubte, und ihnen sogar in die USA Neuigkeiten übermitteln zu können, die zeitnah ankommen; der bloggt, weil es ihm Spaß macht, sich schriftlich auszudrücken und genau deswegen lieber vor dem Rechner als vor dem Fernseher sitzt; der- in schlaflosen Nächten nachts um drei oder vier noch den Rechner anwirft und ab und zu noch Leute virtuell antrifft, die er kennt, die ebenfalls nicht schlafen können und mit denen er dann noch ein wenig quatschen kann, anstatt sich im Bett hin und her zu wälzen und alle 10 Minuten auf die Uhr zu schauen?

Nach ständiger Lektüre solcher Artikel muß man sich in Ermangelung einer passenden Schublade, in der man verstaut werden kann, isoliert und sogar im Internet sozial anpassungsunfähig vorkommen.

Und wo waren eigentlich die Kinderschänder und leichtgläubige bzw. einsame Frauen in irgendeiner Weise ausnutzenden Arschlöcher, Drecksäcke und Psychopathen in Prä- Internetzeiten unterwegs? Oder gab es die da noch nicht?

Fragen über Fragen.

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