Dienstag, 30. September 2014

Fundsachen: Gequalle 2.0

Es begab sich einmal vor langer Zeit, daß das Hipster- Stadtmagazin- Metropolengesabbel Einzug hielt in die Musikkritik.
Eigentlich war das in den 80ern die alleinige Domäne der SPEX; vor allem Diedrich Diederichsen ist in diesem Metier nahezu unerreicht. An dieser Stelle muß ich mich outen: ich verstehe ihn nicht. Ich habe ihn nie verstanden. Mag sein, daß dies an mangelnder Intelligenz meinerseits liegt (was mich ja auch an philosophischen Texten regelmäßig verzweifeln läßt) oder einfach meinem fehlendem Bemühen; jedenfalls habe ich seine Beiträge irgendwann automatisch weiträumig umfahren.
Ellenlange Plattenkritiken, in denen es jemand fertigbringt, kaum etwas über die Musik zu schreiben, hatten schon immer für mich einen recht geringen Nutzwert.
Irgendwann wurden diese ganzen SPEX- Leser aber erwachsen und griffen selbst in die Tasten; spätestens da wurde das früher singuläre Phänomen zur massenhaften Plage.
Plattenkritiken setzten sich nun zuhauf aus verquastem Geschwurbel zusammen, und unter soziokultureller und pophistorischer Theorie (die auch gerne durch das Modewort "Diskurs" ersetzt werden darf) wollte es nun schon gar niemand mehr machen.
Dabei hatten Leute wie Albert Koch, Michael Sailer und der leider weitgehend abgetauchte Christoph Lindemann zur Genüge bewiesen, wie man Plattenkritiken und Kolumnen verfaßt, die nicht nur die Musik adäquat behandeln, sondern auch Hintergrundinformationen und aktuelle wie musikgeschichtliche Themen anspruchsvoll aufbereitet, ohne in belangloses WOM- Magazin- Gewäsch zu verfallen.
Aber die schrieben ja für Mainstream- Medien, und das war bäh. Nein, das nachwachsende Dünkelvolk wollte seine eigene Sprache ( die auch gerne durch das Modewort "Codes" ersetzt werden darf) und tobte sich in allerlei und quallerlei Texten aus. Ironischerweise wurde zur Hauptanlaufstelle für verhinderte und ehemalige SPEX- Schreiber ausgerechnet das Umsonstblättchen INTRO, dessen finanzielles Hängen am Tropf diverser Unternehmen trotzdem keinen der Macher daran hinderte, sich als Speerspitze popkultureller Avantgarde zu fühlen.
So entstand ein bis heute nachwirkendes Gemisch aus verkopftem Gefasel, der Stilisierung harmloser Popliedchen zu kulturellen Beiträgen unübertrefflicher Relevanz (was wiederum die Hofierung unerträglicher Gestalten wie Lady Gaga zur Folge hatte, deren Scheißmusik man plötzlich nicht mehr schlechtfinden durfte, ohne sich als kompletter Ignorant zu outen), in den 80ern verwurzelten Jugenderinnerungen, denen generationsprägende Eigenschaften nachgesagt wurden und vermeintlich scharfsinnigen gesellschaftlichen und kulturellen Beobachtungen. Das Ganze durfte dann beim erstmaligen Lesen kaum zu verstehen sein und mußte sich trotz aller Affektiert- und Aufgeblasenheit auch noch möglichst selbstironisch geben, obwohl es das zu keiner Zeit war; vielmehr drängte sich häufig der Verdacht auf, der Schreiber hätte während langer Abendstunden hinter der Tastatur permanent eine Hand in der Hose gehabt.

Schon damals hatte ich das Gefühl, daß dieser Stil danach schrie, endlich einmal parodiert zu werden; als dann im ME- Forum vor ca. 5 Jahren eine obskure Gestalt namens Peter Wolfgang Dörrhöfer auftauchte, die in Schreibstil und sinnfreiem Geblubber mit Pseudoanspruch eine passende Verkörperung des ganzen glumpfigen Genres war, schritt ich zur Tat.
Ich mußte einen Sampler eines anderen Forenmitglieds rezensieren und Song für Song mit einem kleinen Text bewerten; also tat ich das genau in diesem sinn- und inhaltsleeren Knalldeppenstil.
Und diese Rezension wollte ich dann vor kurzem endlich für die Nachwelt festhalten. Die Lektüre mag vielleicht dem einen oder anderen recht zäh vorkommen; aber das liegt in der Natur der Sache.

Hier also nun trotzdem viel Vergnügen mit 20 Tracks im Musikjournalistensprech 2.0 (zu den übernommenen Bewertungen: die Skala reicht von * bis ****** , und die Sterne geben meine tatsächliche Meinung wieder):

1. Ministry: Burning Inside

Das Gerumpel riesiger, rostiger Metallspinnen, die "N.W.O." echoen, in einer Art vorauseilendem Gehorsam. Das war, und etwas wird noch kommen, während wir in Kneipen mit ockerfarben gestrichenen Wänden und Hirschgeweihen über dem Tresen die Apokalypse erwarten. Sie klopfte klar vernehmlich an die Tür, doch wir waren nicht daheim, gefangen in letzten Zuckungen postgrungealer Depression waren wir ertaubt für den rasselnden Ruf berserkernder Wolfsrachenriesen. Doch wir können noch warten, während wir die ölverschmierten Reste begutachten, durch die ab und zu eine sanfte Brise fährt, als klar vernehmbares Echo aus besseren Zeiten. Wir warten. Oh ja, und wie wir warten.

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2. Metallica: Whiplash

Gereckte Finger, fliegende Haare, und glühende Gitarrenkabel. Mögen Metallica nun auch nicht mehr State Of The Art im urbanen Dschungel sein, das suburbane Elend fließbandiger Lebensläufe wird hier auf einem niedrigen Diskurslevel auf eine Art und Weise erklärt, die durchaus Stumpfspaß bringt. Da wird gerockt, aber es fliegen keine BH's, nein, Boys, das habt ihr nicht nötig, eher Klappstühle und Gartenspaten bei der Verbrüderung diverser Peergroups zu einer einzigen, dem Spießertum angenehm anachronistisch die Stirn bietenden rockenden Meute.

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3. Descendents: Suburban Home

Ein anderer Raum. Auch im geografischen Sinn. "I wanna be stereotyped". Das ist Ironie. Doch leider schwingt der Sound über meinen Kopf hinweg. Ich höre, ohne zu hören. Ich fühle, ohne zu fühlen. Auch wenn das Herz am rechten Fleck schlägt. Dort, wo der Style der nachtaktiven suburbanen Crowd ein anderer ist, wo die Resonanz auf solche Schwingungen jugendlichen Rebellionswillen befeuert, mag das ein schweißtreibender Appell zu macholosen Verbrüderungs- (oder Vergeschwisterungs-) posen sein, doch hier fühle ich mich grade allein. There's no way out of this mess. Irgendwie sind wir alle allein in unserer Wirkwarenwelt. Dabei wollen wir alle doch nur Ficken. FICKEN! AAAAH!!!

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4. Mission Of Burma: Academy Fight Song

Dekonstruktivismus, die Erste. POP. Ohne Kitsch. Auf's Skelett reduziert. Ein Blecheimer übergestülpt. Verhuschtes klimpert. Willkommen daheim. Die Wärme kehrt zurück. Einlullend in einer trotz aller Reduktion spürbaren Nacktheit und emotionalen Verletzlichkeit. Die pure Kraft der sanften Schläge. Nix mehr Ficken. Es wird roh gekuschelt, die Alarmtrompete im Ohr.

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5. Fugazi: Waiting Room

Der Baß tut, was ein Baß tun muß: die Illusion wird Thunfisch. Oder zwei Öltanks. Ein Fimpen und Fampen. Ein Zimpfen und Zumpfen. Rabimmel rabammel rabumm. Ich "groove" in meinem ureigenen Rhythmus, wiedergefunden mit dem Kopf im Backofen. Denn gestern war ich dort. Heute bin ich hier. Und ihr seid immer noch da. Oft hat man es gehört, irgendwann mochte man es nicht mehr, heute erstrahlt es wieder in hellem Glanz am Firmament dekonstruktivistischen Postrocks. Und es rekreiert meine persönliche Erlebniswelt. Es geht mir gut.

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6. Minutemen: This Ain't No Picnic

Bassig biestig. Ein bassiger Bumsbomber mit biestigem Bass. Doch halt: er transportiert. Nihilistische Romantik? Nein. Eine genaue Sezierung archaischer Arbeitsrealität. Ein Faustschlag auf den Helm, mit ungeheurer Präz...ähm Genauigkeit. Metallica revisited? Nein, sondern die Wiedergeburt des Spagats. Intellektuelles Feingefühl meets exploitative work an einer Kreuzung im Niemandsland abseits der corporate identity. Hier fühlen wir uns wohl, wir, die wir manchmal auch mühsalbeladen hier parken, um eine schnelle Zigarette zu rauchen. Oder ein Bier zu trinken. Grüßt uns nicht, wenn ihr vorbeifahrt. Wir wollen euren Trost nicht!

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7. Dinosaur Jr.: Raisans

Proletig posaunt jemand neben mir heraus, das wäre wohl eine der langweiligsten Bands aller Zeiten. Mal sehen: hält der Song dem Test stand, wenn ich ihn auf meine persönliche Metaebene hieve? Das Schleifen und Kratzen? Schlirfen und Schlurfen? Während zähflüssige Gitarrenwände zu bemoosten Barrieren emporgezogen werden, erblicke ich mich dort in einem Spiegel. Oder ist es ein Vexierbild? Hymnen für Slacker. Tanz den Diedrich Diederichsen. Der Diskurs mag eröffnet sein. Doch er forciert eher meinen Rückzug ins Private.

** 1/2

8. The Chameleons: As High As You Can Go

Hui, hier manifestieren sich aber unerfüllte Teenagersehnsüchte im großflächigen Synthiemantel. Es geht in engelsgleiche Sphären. Nur findet sich dort niemand. Gleich einem Ikarus mit gestutzen Flügeln geht es sofort wieder abwärts. Zurückgeworfen in uns selbst. Das sehnsüchtige Schwelgen in unerfüllten Leidenschaften findet keine adäquate Erfüllung.

** 1/2

9. Talking Heads: Girlfriend Is Better (Live)

Avantgardistische Entrücktheit. Sirrende Keybordstakkati, die die Songstrukturen zu unverdaulichen Portionen zerstückeln. Stroboskoplichter. Kälte. Tote Maulwürfe. Weiße Plastikrhinozerosse in gleißendes Neonlicht getaucht. Und dennoch andererseits schwitzlustige, vergnügungssüchtige Tanzbarbareien. Man möchte die Welt umarmen, um den Augenblick zu feiern, eintauchen in eine sophisticated Partycrowd. Nerdtum, das Vergnügen bringt. Wenn auch mit Gänsehautgarantie, entlehnt einer stillen, paranoiden Verzweiflung.

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10. ABC: Poison Arrow

Popmusik. Natürlich ist das POP, schon wieder und immer noch. In aller dandyhaften Eleganz, kleine Zufluchten zum Durchatmen in einer von Rockismen geprägten Musikwelt. Beständige Keyboardstakkati. Man fährt zum Tanztee in die Vorstadt. Bescheidene Eleganz heißt die Zauberformel. "Shoot the poison arrow to my heart", und flugs sind die kleinen Fluchten als solche dekodiert. Zurück in der Welt. Und kleine private Katastrophen werden zu alles verschlingenden Monstern, während einem die letzte S- Bahn den Fuß abfährt. Man denkt nicht mehr an die Heuschreckenplage in Kasachstan, während man ALLEIN durch den urbanen Neondschungel flaniert. Nur ein sanftes Ziehen den vergifteten Pfeils, das sich in Musik gemeißelt mäandernd durch das Haupthirn zieht und eine verstohlene Träne auf Reisen schickt.

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11. The Fall: Hit The North

Das Wort der Stunde: Avantgarde. Das Non- Klischee einer Rockband mit einem Non- Klischee eines Rocksongs. Man erkennt sie hier halt nicht so. The Fall sind nicht Westernhagen. Und das ist gut so. Dennoch: zäh zieht sich mechanoides Geklöppel in die Länge. Eigentlich sollte Karlsruhe brennen. Oder zumindest meine Wohnung. Oder mein rechter Fuß. Entfacht vom Indie- Entertainer. Vielleicht brennt ja Forchheim. Ich weiß es nicht.

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12. Tears For Fears: Head Over Heels

Es wollten immer noch kleine Fluchten sein. Doch diesmal führt die Tür ins Nichts. Eure Tränen sind nicht meine Tränen. Eure Ängste sind nicht meine Ängste. Ich kapituliere. Die anderen waren es, die recht hatten. Die die Simplizität enttarnten. Hier helfen keine zirpenden Beats über schwelgerischen Soundskizzen. Hier helfen nur Koks und exzessive Masturbation, bis daß in Scherben fällt was die Welt im Innersten zusammenhält. Ich passe. An die Nachtlebenstylemenschen: ich kehre zurück. Reumütig.

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13. The Cars: Drive

DAS ist der Song über den Moment kurz vor dem Erreichen eines sich als Glück verkleideten Gefühls. Das Gefühl, daß einen so over the top hinauflifted, in Höhen, wo man jegliche Grammatik dorthin bugsiert, wo bereits Sinn und Verstand seit zwanzig Jahren ein Schattendasein führen. Und dort schwelgt man. Deep und gleichzeitig high. In uns schwingt was. Der Gong der reinen Menschlichkeit, ein elfenhaftes Gefühl zart schwebender Zufriedenheit. Man hat dem Konsens ins häßliche Gesicht geblickt, turn the radio off, mama, before I start to bleed eternally, doch bevor man den Ausknopf dreht, hat einen die große Allgemeinplatzwartharfe dazu gebracht, sich sanft in seinen samtenen Seelensack einzumummeln.

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14. Billy Idol: Eyes Without A Face

Jungsmusik. In einer ewig rotierenden Welt ewig 15 gebliebener Außenseiter wäre das die Nr.1 der Charts. Es wäre cool. Ich buchstabiere: c o o l. So cool wie PEZ- Spender mit Lupo, denn Lupo war cool. Oder wie die Kaubonbons, die der Klassenprimus immer in die Biostunde zu Frau Freese mitbrachte und die nach getrocknetem Elchsperma mit Erdbeeraroma schmeckten. So cool wie den Kopf in den Wäschetrockner zu stecken. Billy Idol war cool. Als Verkünder pubertärer Jungsphantasien, der trotzdem auch wußte, was böse Mädels wollten. Und das ist ebenfalls cool. Das muß man nämlich erstmal können: cool sein.

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15. Falco: Ganz Wien

Die Generation Golf im Spiegel ihrer Zeit. Entseelte Yuppiephantasien in einer entseelten Yuppiewelt. Plastikmenschen in Plastikzeiten. Hymnen zur Unsterblichkeit der Hoffnung auf ein besseres. Schnitzel. Oder hier: Filet Mignon. Oder Krabbencocktails in Bechern aus Rauchglas. Serviert von einem, der irgendwie selbst Plastik war in Zeiten, in denen die Herrschaft der Scheckkarte begann. Das hier ist die Wahrheit. Das hier zählt.

Zitat Zitat von peter wolfgang dörrhöfer
" Die Lieder wie man sie von den Platten kennt, als eine Mischpoke aus je nach Geschmack und Gesinnung, zusammengesetzt aus Fantasieabstraktionen die aber ebenso gut vertonte Geschichten von ge- oder misslungen Drogenexperimenten sein könnten, gewürzt mit Kritik am Leben in der Konsumgesellschaft."
Man KANN das gar nicht besser auf den Punkt bringen.

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16. Ultravox: Lament

Tropf tropf tropf. Wieder etwas vom kahlen Neonasten, wo karges Synthiegestrüpp meterhoch in den Himmel wuchert. Der alte Gärtner "Punk", der diese Hecken schneiden würde, ist meilenweit entfernt und wird grade schmerzlich vermißt. Stattdessen lauscht man selbstreferentiell in sich hinein.

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17. Talk Talk: I Don't Believe In You

Hier wird die Ekstase ernsthaften Musikschaffens zelebriert. Eine Blaupause für das, was da noch folgen sollte, nein, folgen MUSSTE. Ein Zusammenspiel musikalischer Miniaturen. Kunst. Große Kunst. Jedoch außerhalb meiner Reichweite. Gebt mir den Rock zurück. Ich will rocken. Jetzt.

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18. Roxy Music: Oh Yeah

Ich erinnere mich: Tante Ursula, 48. Ihre mongolischen Gesichtszüge geraten ins Rutschen, wenn der große Zampano erklingt, die unerreichte, ewig beständige Style- Ikone. Aus dem klobigen Saba- Radio auf der Anrichte. Man schwelgt beim Nachmittagskaffee. Dazu gibt es Erdbeeren mit Scheiße. Und ein kurzes Aufblitzen vom Gefühl verwandtschaftlichen Zusammenhalts. Eine Ahnung, wie es hätte sein können, wären mir nicht die Smiths dazwischengekommen.

**** 1/2

19. The Smiths: Rubber Ring

DAS Rolemodel für unnerdige Nerds. In subkultureller Orientierungslosigkeit als sensibler Schopenhauer- Leser war man beim Anblick der wilden Jungs in der Stufe in ambivalenter Gefühlswelt gefangen. Leute, die mit der Stirn Walnüsse knacken konnten, zogen einem im Matheunterricht gerne mal die Hose aus. Das war uncool, vor allem, wenn man Lehrer war. Dabei wollten wir nur Teil einer Jugendbewegung sein und uns endlich gegenseitig die Hosen ausziehen. Morrissey sei Dank: es hat funktioniert. Auf daß wir uns in zwanzig Jahren noch gegenseitig die Hosen ausziehen werden.

**** 1/2

20. The Go- Betweens: Bachelor Kisses

Großes Gefühlskino. Da ist er wieder, der POP. Hier verkleidet als neckischer Seitenblick auf Prefab Sprout. Und trotzdem versteckte sich das alles in einem Paralleluniversum der populären Musik, abseits von Bohlen, Sandra und Italodisco. Und Samantha Fox. Und die wäre mir jetzt lieber.

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