Mittwoch, 9. Januar 2019

Amöbenwelt

Aufgrund meiner technischen Antiquiertheit schleppe ich mich ja Neuerungen der virtuellen Welt oft kilometerweit hinterher, und was bei mir als aktuelles Phänomen ankommt, hat ein Großteil der Internetnutzer bereits 2017 ad acta gelegt.
Manchmal ist das auch ein preisenswerter Vorgang: so haben mich zuerst Kollege Albert Koch und dann Schlecky Silberstein in seinem phänomenalen Buch "Das Internet muss weg" mit einem populären Personenkreis bekannt gemacht, der dennoch bisher von mir komplett unbemerkt ein erfolgreiches Dasein fristete: die sogenannten Influencer.
Das sind Menschen (behaupte ich jetzt einfach mal so), die zumeist jung sind, unverschämt gut aussehen und es in Blogs oder mit You Tube - Kanälen geschafft haben, teilweise Millionen Follower um sich zu scharen. Was dann wiederum Konzerne dazu motiviert, mit solchen an Replikanten gemahnenden Personen offensiv Werbung zu treiben.
Im Gegensatz zu den Werbetreibenden früherer Tage, die oftmals einen oder mehrere Prominente an Land zogen, die ein Produkt in einem Spot eine gewisse zeitlang behupten, sind Influencer eine Art lebender Dauerwerbeschleife, die konstant für gutes Geld mit irgendwas behängt oder ausgestattet werden, wonach sie dann auch ihre Blogeinträge ausrichten.
Beispiel: Influencerin X (nennen wir sie der Einfachheit halber "Schnüpfi") hat ein Angebot eines Kosmetikunternehmens, einer Sportfirma und - folgendes habe ich in "Das Internet muss weg" eigenäugig erblickt - einer Nuß - Nougat - Creme und wurde von ihren Sponsoren in Urlaub geschickt.
Also schildert sie ihren ersten Urlaubstag: sie erhebt sich aus ihrem Bett (natürlich da schon wie aus dem Ei gepellt), pflegt sich ausgiebig mit einer bestimmtenWellness - und Kosmetiklinie, die sie ganz allein um diese Uhrzeit schon so aussehen läßt (nicht so wie den Gorg, den fast alle Normalsterblichen direkt nach dem Aufstehen im Spiegel erblicken, in Verbindung mit dem Geruch, den sie ausdünsten) und geht dann eine Runde an den Pool, was photographisch dokumentiert wird, wobei auch die schicken neuen Sneakers immer wie zufällig ungehindert zu sehen sind.
Und am Nachmittag, wenn man dabei ist, sich im Hotelzimmer auszuruhen, hat man ja immer sein Glas Nußschmiere dabei, das man scheißdiewandan als "besten Freund" bezeichnet, der einen "immerzu begleitet".
Und so etwas schauen sich Millionen Menschen (zumeist Teenager) an und halten das für reales Leben: wenn Menschen, die nicht den Hauch einer eigenen Persönlichkeit offenbaren, Produkten huldigen, mit denen sie von Sonnenbrillen bis Katzenfutter ausstaffiert werden und damit reich werden, indem sie ihre Prominenz mit der kulturellen Relevanz eines Bündels Stangenspargel auf diese Weise täglich mehren.
Und noch schlimmer: Millionen von Menschen sind nicht in der Lage, die erbärmliche Sinnlosigkeit dieser Existenzen zu durchblicken.Und nehmen dazu auch noch bereitwillig hin, daß derartige Amöben dazu berufen werden, wie Sport - oder Unterhaltungstreibende früherer Tage auch außerhalb ihres Mikrokosmos Werbung zu treiben und somit eine gesellschaftliche Vorbildfunktion zugesprochen zu bekommen. Danke an Michael Zargus aus Hagen für folgendes glumpfige Beispiel:


Man kann natürlich immer ein "offenbar alles richtig gemacht" anfügen, wie es halt heute Gang und Gäbe ist in einem Zeitalter, in dem jeder kommerziell ausschlachtbare populäre Schwerschwachsinn Apologeten findet.
Man könnte mir ebenfalls unter die Nase reiben, daß ich vielleicht 60 Fans habe (die zumeist noch mit meinem Freundes - und Bekanntenkreis identisch sind) und diese absunderlichen Wesen drei Millionen Follower.
Wenn ich mir dann aber überlege, daß ein Jahr nach meinem Dahinscheiden (auch wenn ich nichts mehr davon haben werde) von diesen 60 Leuten vielleicht 50 ab und zu noch einen Gedanken an mich verschwenden, während es im anderen Fall von drei Millionen wahrscheinlich gerade noch 30 sind, bin ich unumstößlich davon überzeugt, damit in meinem Leben den besseren Schnitt zu machen.

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